Der Tod meiner Schwester
Wasser und hatte Angst … wovor? Dass die Krabben mich in den Zeh kniffen? Dass das Wasser den Sand unter mir wegzog? Vorm Ertrinken? Ich bin mir heute nicht mehr sicher, und ich glaube auch nicht, dass ich damals hätten sagen können, was mir Angst machte, aber jedenfalls konnte ich nicht ins Wasser gehen. Im Winter brachte Mom mich zu einem Lehrer, der dafür bekannt war, auch die widerspenstigsten Kinder zum Schwimmen zu bringen. Doch bei dem “Komm doch rein, Kleines”-Spielchen hatte ich den längeren Atem, und nach zwei Jahren gab der Lehrer es auf. Jeder gab es auf, außer meiner Mom.
Im Sommer 1962 hatte sie einen neuen Plan, um mir das Schwimmen beizubringen. Ich hatte gerade meine erste Geige bekommen – ein doofes, leichtes Plastikding aus dem Kaufhaus – und wollte eigentlich nur auf der Veranda sitzen und die einfachen Lieder üben, die in dem beiliegenden Notenbuch standen. Doch Mom blieb hartnäckig.
“Ich habe irgendwie das Gefühl, dass heute der richtige Tag ist!”, rief sie in ihrem Enthusiasmus. Sie stand vor mir in ihrem schwarz-weiß getupften Badeanzug mit dem Rockteil und hielt die orangefarbene Kinder-Schwimmweste in der Hand. “Das habe ich wirklich”, behauptete sie. “Und ich habe Mr. und Mrs. Chapman gefragt, ob wir ihr Dock benutzen dürfen, weil es eine Schräge hat, an der du ins Wasser gehen kannst. Klingt das nicht super?”
Ich sah durch das Fliegengitter der Veranda zum Dock der Chapmans und erblickte den Aufsatz ihres Bootes, der über die Spundwand hinausragte.
“Sie haben ihr Boot da”, wandte ich ein.
“Ja, aber das Dock ist doppelt so breit”, sagte meine Mutter. “Jede Menge Platz für dich und das Boot.”
Ich weiß nicht mehr, was mich dazu brachte, meine Geige niederzulegen und mir die Schwimmweste anlegen zu lassen. Ich weiß nicht, ob ich resigniert seufzte, als ich ihr folgte, oder ob ich ein bisschen Hoffnung hatte, dass ich es diesmal wirklich schaffen würde. Vielleicht lernte ich tatsächlich zu schwimmen. Wir gingen durch unseren Garten zu den Chapmans. Ich erinnere mich, dass ich mich mit meinen nackten Füßen vorsichtig über den Sand tastete. Das tat ich auf diesem Weg zu den Chapmans immer, seit ich hier auf das piksige Blatt einer Stechpalme getreten war, das von einem der Büsche in ihrem Garten stammte. Ich war entschlossen, alle Blätter vor mir herzuschieben, damit sie mir nicht wehtun konnten.
Das Dock der Chapmans war sehr breit, und Ned hatte das Boot an der einen Seite festgemacht, sodass jede Menge Platz blieb für meine Schwimmstunde. Alle männlichen Mitglieder der Chapmans waren dort versammelt, außerdem Neds Freund Bruno. Ned und Bruno putzten das Innere des Bootes mit einem Lappen und einer Flasche blauem Reinigungsmittel, während aus einem Transistorradio auf der Spundwand “Sherry” schallte. Ned war ebenso gebräunt wie sein dunkelhaariger Freund, und zum ersten Mal begriff ich, dass Blonde genauso braun werden konnten wie Leute mit dunklem Haar. Ich war froh über Neds Anwesenheit, weil er ein Rettungsschwimmer war. Das gab mir ein kleines bisschen mehr Sicherheit.
Der dünne Ethan stand schon im Wasser, um mir Mut zu machen, und Mr. Chapman lehnte an einem Baum beim Dock und beobachtete, wie wir uns dem zementierten Gefälle näherten.
“Bist du bereit, heute Schwimmen zu lernen, Lucy?”, fragte er mich.
“Vielleicht”, antwortete ich, ohne die Augen vom Wasser zu wenden.
Meine Mutter hielt mich an der Hand, als wir die Schräge hinuntergingen. Es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich konnte den Zementboden kaum erkennen, weil er mit schleimigem Grün bedeckt war. Ich hatte Angst auszurutschen und klammerte mich an die Hand meiner Mutter.
Ich ging bis zu den Knöcheln ins Wasser.
“Das ist gut”, sagte meine Mutter. “Es ist nicht zu kalt. Fühlt es sich nicht gut an?”
Ich nickte und starrte auf das dunkle Wasser im Dock. Man konnte nicht erkennen, was unter der Oberfläche war. Ich hatte gesehen, wie Julie jede Menge Krabben in unserem Dock gefangen hatte, und wusste, dass dieses genauso voll davon war. In dem knöcheltiefen Wasser konnte ich meine nackten, verwundbaren Füße sehen.
“Ich muss meine Flip-Flops holen”, fiel mir ein.
“Warum?” Meine Mutter blickte mich fragend an.
“Wegen der Krabben.”
“Die Krabben haben Besseres zu tun, als deine Zehen anzuknabbern”, versuchte Bruno mich zu beruhigen. Er kniete auf dem Deck des Bootes und putzte die Frontscheibe.
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