Der Tod soll auf euch kommen
Ansicht nach handelte es sich um einen Jungen, der offenbar nur einen Auftrag ausführte. Kurze Zeit später erschien Sárait mit Alchú am Tor. Sie teilte Caol mit, wo sie hingehen wollte, und erklärte ihm, daß sie das Baby mitnehmen müßte, weil niemand anderes sich darum kümmern könnte. Aber das ist …«
»Das ist die erste Merkwürdigkeit in dieser Geschichte«, unterbrach ihn Fidelma.
Alle Augen blickten sie fragend an.
»Eadulf wollte sagen, daß Sárait eigentlich keinen Grund hatte, Alchú aus der sicheren Burg hinaus in die Dunkelheit mitzunehmen.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Brehon Dathal skeptisch.
»Wie viele Frauen hielten sich deiner Meinung nach zu der Zeit in der Burg auf? Und wie viele davon mit Kindern? Zwanzig? Mehr? Und wie viele davon kannte Sárait? Wie viele sind so verläßlich, daß man ihnen das Kind für kurze Zeit hätte anvertrauen können?«
Colgú sagte nichts, aber es war klar, daß ihm diese Frage nie in den Sinn gekommen war.
»Genau«, pflichtete ihr Eadulf bei. »Es gab für Sárait eigentlich keinen Grund, Alchú mitzunehmen. Ehe jemand danach fragt: ich habe mich bereits bei einigen der Frauen erkundigt, die an jenem Abend in der Burg waren. Sárait hat keine von ihnen angesprochen, ob sie wohl Alchú hüten könnte. So ergibt sich als erstes die Frage, warum hat Sárait das Baby mitgenommen?«
Niemand anwortete ihm.
»Betrachten wir einen anderen Aspekt«, unterbrach Fidelma das Schweigen, denn alle suchten nun nach einer Erklärung. »Angenommen, das Kind, das die angebliche Nachricht von Gobnat überbrachte, war Teil eines Plans, Sárait und das Baby aus der Burg zu locken, um Alchú zu entführen. Wie konnte derjenige, der hinter diesem Plan steckte, annehmen, daß Sárait die Burg zusammen mit dem Baby verlassen würde?«
»Anders ausgedrückt«, fügte Eadulf hinzu, »jeder andere, der eine Nachricht von seiner Schwester erhält und dringend zu ihr gebeten wird, würde doch gewiß das ihm anvertraute Baby in die Obhut eines anderen geben. Doch Sárait nahm Alchú in jener kalten Nacht mit, obwohl sich mehrere Frauen in der Nähe aufhielten, bei denen sie ihn hätte lassen können.«
Wieder herrschte Schweigen.
»All das bestätigt doch nur, daß meine Frau eine solche Botschaft nie geschickt hat.« Capa räusperte sich. »Falls Sárait gewußt hat, daß die Aufforderung nicht von Gobnat kam, so muß sie Caol angelogen haben, was ihren Gang in die Stadt betrifft, oder?«
»Das ist eine logische Schlußfolgerung«, stimmte ihm Eadulf zu.
»Da ist noch etwas anderes sehr rätselhaft«, sprach Fidelmaruhig weiter. Sie blickte erst zu Eadulf, dann zu ihrem Bruder. »Da ich die bisherige Anhörung der Zeugen nicht mitverfolgt habe, weiß ich nicht, ob es euch aufgefallen ist. Statt zum Haus ihrer Schwester zu gehen, wie sie dem Wächter mitgeteilt hatte, lief Sárait mit dem Baby um die Stadt herum zu dem dahinterliegenden Wald, wo sie dann ermordet wurde. Warum mag sie das getan haben?«
»Das ist uns auch schon aufgefallen, Fidelma«, bemerkte Brehon Dathal herablassend.
»Dank Bruder Eadulf, der uns darauf hingewiesen hat«, murmelte Bischof Ségdae.
»Und habt ihr eine Erklärung dafür?« fragte Fidelma.
»Manches läßt sich erst klären, wenn wir den Täter haben«, erwiderte Brehon Dathal schroff, denn ihn hatte der spöttische Einwurf des Bischofs gereizt. »Ich glaube nicht, daß wir damit die Schuldigen überführen können.«
»Das Fragenstellen ist zumindest ein Anfang, den Täter zu finden«, erwiderte Fidelma mit spitzer Zunge. »Oder verfügt der weise Brehon über eine andere Vorgehensweise?«
»Wir müssen noch andere Dinge berücksichtigen«, erklärte Eadulf rasch, ehe der vor Wut rot angelaufene Richter antworten konnte.
Nun blickten ihn wieder alle an.
»Die da wären?« fragte Cerball interessiert, der das Protokollieren der Ratsversammlung vergaß und von seiner Schreibtafel aufschaute.
»Hinter jeder Handlung verbirgt sich eine Absicht«, antwortete Eadulf. »Haben wir jede einzelne Handlung auf ihre Absicht hin überprüft?«
Die Anwesenden starrten ihn verständnislos an, außer Fidelma, die ihm einen ermutigenden Blick zuwarf.
»Stellen wir mal eine Frage in den Raum«, fuhr er fort. »War es beabsichtigt, Sárait in den Wald zu locken, um sie zu ermorden? Oder war es beabsichtigt, Sárait mit dem Baby hinauszulocken, um das Kind zu entführen? Und war der Mord an Sárait deshalb nur eine unvermeidliche Folge der
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