Der Tod soll auf euch kommen
später für den längsten und schlimmsten ihres Lebens. Sie lag auf dem Bett im oberen Raum der Jagdhütte und war gefesselt. Ab und zu sah einer der Uí Fidgente nach ihr und überprüfte, ob die Fesseln noch straff waren. Crond kam zweimal herein und gab ihr zu essen und zu trinken. Dabei löste er ihr die Fesseln von den Händen, stellte sich aber vor sie hin, damit sie nicht entwischen konnte. Am peinlichsten für sie war es, wenn sie ihre Notdurft verrichten mußte. Crond hängte in einer Ecke des Raumes ein Laken vor einen Eimer und blieb die ganze Zeit über davor stehen. Meist aber war sie allein und ihren Gedanken überlassen.
Sie hatte noch einmal erfolglos versucht, Zuflucht in der Meditation zu finden. Aber Meditation bedeutete Flucht aus der Wirklichkeit, und das half ihr wohl nicht weiter. Ihr war klargeworden, daß sie der Realität ins Auge schauen mußte. Jetzt, wo sie allein war und nichts tun konnte, setzte sie sich mit einem Problem auseinander, das sie bisher immer wieder verdrängt hatte. Sie fing an, über ihre Beziehung zu Eadulf und ihrem Kind nachzudenken – ihrem gemeinsamen Kind. Plötzlich rollten ihr Tränen über die Wangen. Warum nur?Sie hatte sich doch sonst immer beherrschen können. Vielleicht war sie immer zu beherrscht gewesen?
Nachdem ihre Jugendliebe zu Cian gescheitert war, hatte sie zu der Idee Zuflucht genommen, daß man es ja mit der Vernunft steuern könne, daß eine Beziehung zu einem Mann nicht zu eng wurde. Hatte sie sich die ganze Zeit über selbst betrogen? Was wollte sie eigentlich? Sie hatte Unabhängigkeit gewollt, sich nur auf sich selbst verlassen wollen. Sie hatte eine gute
dálaigh
sein wollen. Sie hatte ein außergewöhnliches Talent, Verbrechen aufzuklären. Ohne das gäbe es für sie kein erfülltes und zufriedenes Leben. Sie bedauerte es inzwischen, daß ihr Cousin, Abt Laisran von Durrow, sie dazu überredet hatte, Nonne zu werden. Es stimmte natürlich, daß die meisten Vertreter gelehrter Berufe in Klöstern lebten, das war einfach so üblich. Aber ihre Zeit in Kildare war nicht glücklich verlaufen, denn Institutionen bedeuten auch immer eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Und persönliche Freiheit stellte Fidelma über alles.
Das war es! Freiheit. Das war der Kern der ganzen Schwierigkeiten zwischen ihr und Eadulf. Sie wollte sich keine Beschränkungen auferlegen lassen, wollte keine Bindungen eingehen. Auf einmal hörte sie die weisen Worte ihres Mentors Brehon Morann, der sie gefragt hatte: »Wodurch fühlst du dich denn so gebunden, Fidelma?« Und wirklich, vor welchen Bindungen hatte sie Angst? Sie hatte Kildare verlassen, und ihre Fähigkeiten und ihre Qualifikationen als Anwältin hatten sie zu einer gefragten Autorität werden lassen. Sie war die Tochter von Failbe Flann, König von Muman, und nun war ihr Bruder König. Auf Sicherheit kam es ihr nicht an. Wieder einmal stellte sie sich die Frage, wodurch sie sich gebunden fühlte.
Sie dachte an Eadulf und Alchú.
Lebte sie nur allein für sich? Ihr Lieblingsphilosoph war Publilius Syrus. Man hatte ihn als Sklaven aus Antiocheia nach Rom gebracht und ihm schließlich die Freiheit geschenkt. Er hatte viele moralische Lehrsätze hinterlassen, die Fidelma auswendig konnte, denn in Brehon Moranns Rechtsschule hatte man häufig auf ihn Bezug genommen. Seine Maxime
iudex damnatur ubi nocens absolvitur
– wird der Schuldige freigelassen, so ist der Richter zu verurteilen – war fast zu einem Leitsatz geworden. Fidelma hatte diesen Gedanken abgelehnt und als junge Studentin gemeint, daß es besser wäre, einen Schuldigen freizulassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Sie war der Ansicht, daß der Druck, den man durch diesen Leitsatz auf Richter ausübte, jene dazu ermutigen würde, einen Menschen zu verurteilen, nur aus Angst, selbst verurteilt zu werden.
Sie war eine glühende Anhängerin des irischen Rechtssystems, das den Grundsatz
cach brithemoin a báegul
anerkannte: Jeder Richter darf sich einmal irren. Doch ein Richter mußte ein Pfand von fünf Unzen Silber hinterlegen und eine Strafe zahlen, wenn er einen Fall ungelöst ließ. Gegen alle Urteile war Einspruch möglich, und ein Richter mußte eine Entschädigung zahlen, wenn sich sein Urteilsspruch als falsch erwies.
Worüber hatte sie da eben nachgedacht? Über Publilius Syrus? Sie hatte sich doch fragen wollen, ob sie nur allein für sich lebte. Publilius Syrus hatte gesagt, daß jene, die nur allein für sich
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