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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
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durchzuziehen. Vorher musste ich aber erst einmal die Schule schaffen.
    ***
    Die Abiturklausuren wurden in der eisigen Kälte der Aula geschrieben. Irgendwie gelang es dem Hausmeister nie, die Heizungen richtig anzuwerfen, oder unser Waldschrat war der Meinung, dass die preußischen Schüler hart genug sein müssten, um auch Temperaturen wie in Stalingrad auszuhalten. Also nahmen wir zitternd unsere Bogen entgegen und begannen damit, einen Mischmasch des bisher gelernten Unterrichtsstoffes wiederzugeben. Und während alle still, bis auf das Zähneklappern, auf ihren Plätzen saßen, marschierte Tod durch die Reihen, direkt auf mich zu. Ich versuchte meine Panik, so gut es ging, zu verbergen, als er mich ansprach.
    „Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“
    „Siehst du nicht, dass ich gerade mitten in einer wichtigen Klausur bin?“, nuschelte ich leise vor mich hin. Die Aufsicht kräuselte die Stirn.
    „Na ja, davon will ich dich auch gar nicht abhalten.“
    „Geh einfach weg“, zischte ich leise. Der Mitschüler links neben mir drehte sich etwas von mir weg.
    „Du schreib ruhig deine Arbeit weiter, aber helfen kannst du mir trotzdem“, sagte Tod.
    Offenbar hatte ich nicht heftig genug protestiert, denn ich sah das vertraute Bild der zerfließenden Umgebung und fand mich kurz darauf irgendwo in Kalifornien wieder. Allerdings nicht ausschließlich.
    „Oh mein Gott, ich glaube, ich muss kotzen“, sagte ich und hielt mir gleichzeitig Kopf und Bauch.
    „Ist Ihnen nicht gut?“, fragte der Lehrer, der Aufsicht hatte, und ich lief zur Antwort weiß an. „Gehen Sie. Schnell!“, sagte er, und ich tat, wie mir geheißen. Als ich hinausstürmte, schauten mir ein paar Mitschüler nach. Einige kicherten.
    Ich schmiss die Toilettentür hinter mir zu und bekam gerade noch den Toilettendeckel hoch, bevor ich mich übergab.
    „Bist du völlig bescheuert geworden? Was hast du jetzt mit mir gemacht?“, fragte ich in Berlin, aber meine Worte kamen in Kalifornien aus meinem Mund.
    „Ich wollte dir schon eine ganze Weile zeigen, wie ich das mache, dass nirgendwo Schmetterlinge verschüttgehen“, antwortete Tod in Kalifornien, irgendwo unter einer Brücke.
    „Ich hab eine wichtige Arbeit zu schreiben!“
    „Und ich habe dir bereits gesagt, dass dich davon keiner abhält. Du bist ja immer noch da, um sie zu schreiben.“
    „Momentan kotze ich mir gerade das Frühstück aus dem Leib und bin nicht in der Lage, irgendwas zu Papier zu bringen“, sagte ich und spuckte, quasi um meine Sicht der Dinge zu verdeutlichen, einen kleinen Brocken in den kalifornischen Sand.
    „Ganz ruhig. Du brauchst vielleicht einen Moment, aber du gewöhnst dich schon dran“, sagte Tod und fing an „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ zu pfeifen.
    „Ich kann kaum einen Fuß vor den anderen setzen, geschweige denn, mich auf Physik konzentrieren. Bring mich wieder zurück.“
    Statt der erhofften Rückführung meiner zwei Ichs in einen Körper, bebte die Erde etwa 20 Sekunden lang. Ich sah Häuser zusammenfallen, Teile der Brücke einstürzen und Strommasten umkippen. Ich lag auf dem Hintern in Kalifornien und umklammerte die Toilette in Berlin.
    „Was zum Teufel …?“
    Thanatos stand ruhig da und half mir auf, nachdem das Beben vorbei war. „Du solltest jetzt wirklich deine Arbeit schreiben gehen und ansonsten mitkommen.“
    Ich brachte es irgendwie fertig, meinen Berliner Körper in Bewegung zu setzen und wieder an den Tisch zu schaffen. Ich beugte mich über den Zettel, war aber geistig zu beschäftigt, den eingestürzten Apartmentkomplex in Kalifornien zu beobachten, aus dem ein kleiner Schwarm Schmetterlinge in die Luft stieg.
    „Ist es das, was ich denke, was es ist?“ Im Grunde wusste ich die Antwort bereits.
    Thanatos nickte. „Los geht’s.“
    Wir sprangen über Stock und Stein, um die Schmetterlinge zu fangen. Im Grunde war es weniger Stock und Stein als vielmehr unglaublich viel Geröll. Und ich hatte extreme Schwierigkeiten, die Schmetterlinge unbeschädigt zu fangen, denn im Gegensatz zu Tod hatte ich kein Netz. Hatte ich einen der Falter in meinen Händen, dann ging ich zu Tod und setzte ihn in den Kescher.
    Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis wir alle eingesammelt hatten. Und während das alles geschah, hatte ich in Berlin an nur einer einzigen Aufgabe gegrübelt.
    „Ich sehe keine mehr. Und du?“
    Tod schüttelte den Kopf. „Ich denke, wir sind itzo fertig.“
    Offenbar sah ich aus, als hätte er Swahili mit mir gesprochen,

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