Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
mir, dass Anja angerufen und nach mir gefragt hatte.
Ich rief Anja unter der alten Nummer bei ihren Eltern an, die ich erst aus unserem Abiheft heraussuchen musste. Nach dem üblichen „Schön, von dir zu hören“-Geplänkel merkte ich, wie sich Anja langsam vorkämpfte, um zu erfahren, was in der letzten Nacht passiert war. Ich schilderte ihr von der versuchten Vergewaltigung.
„Der Horror. Sie kann wirklich froh sein, dass sie dich hat.“
„Ja, vermutlich“, sagte ich wenig überzeugt.
„Hast du sie dann noch nach Hause gebracht?“
„Selbstverständlich.“
„Gut“, sagte sie. „Woher kennst du sie eigentlich?“
„Aus dem Krankenhaus. Sie hat mich mal behandelt, und jetzt hat sie mir geholfen, als ich einen Platz für meine Famulatur gesucht habe. Ich glaube, ich hatte dir schon einmal von ihr erzählt. Ich bin mir ziemlich sicher.“
„Ist das diese Ältere?“
„Na ja, Ältere ist etwas übertrieben.“
„Wie alt ist sie denn?“
„38 oder 39“, sagte ich und fasste mir selber an die Stirn. Sie war fast doppelt so alt wie ich.
„Oh“, sagte Anja.
„Oh?“, fragte ich.
„Seit wann seid ihr beide denn zusammen?“
„Zusammen? Gar nicht. Wir sind nur Freunde. Glaube ich.“ Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die letzten beiden Worte tatsächlich aussprach oder nur geistig anhing.
„Oh“, sagte Anja.
„Oh?“, fragte ich.
„Ich dachte, ihr … vielleicht können wir uns ja mal wieder treffen und irgendwas zusammen machen.“ Anja klang unsicher.
„Gerne, wenn ich nicht gerade im Krankenhaus bin oder über meinen Büchern hocke.“
„Ach, so schlimm wird es schon nicht sein. Was ist mit Mittwoch?“
„Muss ich mal sehen. Ich melde mich bei dir.“
Sie versuchte noch einen Moment, mich zu überreden, und irgendwann sagte ich zu. Nun hoffte ich eigentlich nur noch, dass Simone die ganze Sache tatsächlich so locker nahm, wie sie es sagte.
Kapitel 33
Als ich am Montag wieder im Krankenhaus aufschlug, schaute ich mich nervös um. Das Gefühl, man könne mir irgendwie ansehen, dass ich meine Unschuld verloren hatte, ließ mich nicht los. Aber alle verhielten sich so wie immer. Bis zur Morgenvisite hatte ich mich daher bereits einigermaßen beruhigt. Der Zustand hielt so lange an, bis mir Simone zum achten Mal auf dem Flur „zufällig“ entgegenkam und beobachtete, wie ich mich mit einer anderen Studentin unterhielt, die bereits ihre zweite Famulatur machte. Wir grüßten Simone höflich, aber die schaute der Studentin mit einem Blick hinterher, der mir sagte, dass sie am liebsten über sie wie Anthony Perkins über Vivien Leigh in der Dusche herfallen würde.
Aber das war nicht mein einziges Problem. Nach der Begegnung mit Tod in der Vorwoche hatte ich beschlossen, die Visionen wieder zuzulassen. Bei den meisten Patienten, die wir uns ansahen, wusste ich also schnell, wie sie sterben würden. Vereinzelt rutschte auch ein Bild von einer Krankenschwester oder einem Arzt dazwischen. Ihre Tode waren größtenteils banal und meistens weit genug in der Zukunft, so dass ich mir darum zunächst keine Sorgen machen musste. Aber wenn man in einem von Leuten bevölkerten Haus arbeitet und von jeder Person darin eine Vorstellung darüber bekommt, wie er oder sie stirbt, dann fällt einem die Konzentration nicht mehr leicht.
Also begann ich, Fehler zu machen.
Bei einem Patienten vergaß ich bei der Blutabnahme, den Riemen vom Oberarm wieder zu lockern und abzunehmen. Der Patient selbst musste mich darauf aufmerksam machen, als sein Arm plötzlich blau anlief und ein riesiges Hämatom sich darauf ausbreitete. Bei einer Patientin mit Rückenverletzung stellte ich aus Versehen die obere Betthälfte hoch, was ihre Genesung mit Sicherheit nicht begünstigte.
Mein zuständiger Stationsarzt nahm mich daraufhin beiseite und las mir die Leviten. So was könne vorkommen, dürfe es aber nicht. Ein paar Krankenschwestern machten Witze darüber, dass ich vielleicht so abgelenkt sei, weil mir gerade die Freundin weggelaufen oder ich frisch verliebt wäre. Ich verneinte alles, und es wäre auch alles gut gewesen, wenn Simone mich nicht irgendwann auf dem Flur angehalten hätte.
„Ich habe nachgedacht“, sagte sie.
„Das hat deine Patienten bestimmt gefreut“, sagte ich.
„Ist da irgendwas mit dieser Studentin, mit der ich dich zusammen gesehen habe?“
Mein nichtssagender Gesichtsausdruck genügte wohl als Antwort.
„Die, mit der du neulich hier um die Ecke gequatscht
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