Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
Schwestern war klar, dass irgendwas mit mir geschehen war, den Ärzten war klar, dass ich anders war als sonst, und Simone … war es auch klar.
Das war nicht gut.
Und es schlug mir aufs Gemüt.
Das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, lag auf mir, und es war nicht leicht, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich hatte nur noch wenige Tage, bis diese Famulatur zu Ende wäre, und ich versuchte jegliche Konfrontation mit Simone zu vermeiden. Ich ging ihr schlicht aus dem Weg. Aber sie ließ mich nicht.
Es gelang mir nur einen Tag, ihr nicht zufällig über den Weg zu laufen und ihre Telefonanrufe nicht zu beantworten. Das, was ich mit ihr zu klären hatte, war nichts, was man am Telefon besprechen sollte. Ihr persönlich entgegenzutreten … dafür war ich allerdings noch nicht bereit.
Meine Mittagspause verlegte ich so, dass ich sie nicht beim Essen treffen würde. Aber am zweiten Tag hatte sie mir offenbar aufgelauert und gesellte sich plötzlich zu mir, als ich mir ein Brot aus dem Café im Erdgeschoss kaufte.
„Hi!“, sagte sie mit gespielt freudiger Höflichkeit.
„Hi“, sagte ich ebenfalls, während in meinem Kopf eher etwas ablief, das wie „Ach du Scheiße!“ klang.
„Du meldest dich ja auch gar nicht mehr.“
„Tut mir leid, ich hatte viel zu tun.“
„Warst mit der Kleinen beschäftigt, was?“
„Welcher Kleinen?“, fragte ich unschuldig.
Sie warf mir einen Blick zu, der mir sagen sollte, dass ich sie nicht zu verarschen brauchte.
„Du meinst die von Mittwoch? Oh ja, eine alte Schulfreundin.“
Ich hatte keine Lust auf eine Szene im Café.
„Ach, hattest mir gar nichts von ihr erzählt.“
„War nicht so wichtig. Wir kennen uns einfach schon sehr lange.“
„Na, dann könnten wir ja heute Abend noch die überstandene erste Famulatur feiern, was?“
Ich grinste mühsam, was bei ihr anscheinend eher als verwegen ankam. Jedenfalls begannen ihre Augen zu leuchten.
„Wir können natürlich auch einfach noch etwas über Anatomie lernen, wenn dir das lieber ist. Dann nehme ich dich nachher mit, und wir schauen mal, was uns so einfällt.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, und bevor ich irgendwas erwidern konnte, zog sie von dannen. Ich saß weiter im Café und kaute auf einem Bissen des Brotes herum, der längst zu einem geschmacklosen Brei geworden war.
Ich beschloss, Simone am Abend reinen Wein einzuschenken und sie nicht zu belügen. Und sie hatte allemal verdient, dass ich mich bei ihr für den Famulaturplatz bedankte.
Vom Telefon in der Eingangshalle rief ich Anja an, um ihr zu sagen, dass ich am Abend mit Simone unterwegs wäre. Anja machte spontan den Vorschlag, dass sie doch mit uns feiern könnte, aber es gelang mir, sie dadurch abzuwimmeln, dass ich behauptete, dass auch andere Studenten anwesend wären, wo es dann den ganzen Abend nur um langweilige medizinische Themen ginge. Sie war etwas enttäuscht, wünschte mir dann aber viel Spaß. Mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen, denn weder hatte ich vor, Simone damit zu überfallen, dass ich nun eine Freundin hatte, noch wollte ich vor Anja zugeben, dass mit Simone etwas gelaufen war. Wie ich das jemals vor Anja geheim halten sollte, war mir allerdings ein Rätsel.
Ich begab mich wieder auf die Station, wo ich einer Ultraschalluntersuchung beiwohnen sollte. Den Patienten, der über Schmerzen im Oberbauch klagte, hatte ich vorher nicht gesehen. Wie so oft in den letzten Tagen senkte ich meine geistige Barriere vor den Visionen, um zu checken, ob der Patient „sicher“ war. Und nach all der Zeit hatte ich meinen ersten akuten Fall. Die Vision zeigte mir eindeutig, wie der etwas beleibte Mann auf dem Stationsklo sterben würde.
Mein Puls ging sofort hoch, und ich war kaum in der Lage, ordentliche Aussagen zu treffen, als der Assistenzarzt mich an das Gerät ließ. Ich fand keine Hinweise auf die Herkunft der Schmerzen, der Assistenzarzt, nachdem er wieder übernommen hatte, allerdings schon. In der Gallenblase hatte sich etwas Grieß angesammelt. Zu wenig, um behandelt zu werden, genug, um kurzzeitige Schmerzen hervorzurufen. Der Assistenzarzt riet dem Patienten, etwas auf sein Gewicht zu achten, und schickte ihn zurück zur Geriatrie, wo der Mann eigentlich in Behandlung war. Mich wollte er gleich mit zum nächsten Patienten nehmen, aber ich entschuldigte mich und sagte, dass ich kurz zur Toilette müsse.
Ich folgte dem Mann. Während er es sich in der Kabine gemütlich machte, die sein Todesort werden
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