Der Tod wartet
sie stirnrunzelnd, «finde ich es unerträglich, dass er sie mit dieser grässlichen alten Frau vergleicht – obwohl ich ja selbst einmal Mitleid mit Mrs Boynton hatte.»
«Wann war das, Mademoiselle?»
«Damals in Jerusalem. Ich habe Ihnen davon erzählt. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als ob ich alles missverstanden hätte. Kennen Sie dieses Gefühl, das einen manchmal überkommt, wenn man einen Moment lang alles aus einem anderen Blickwinkel sieht? Ich war richtig in Fahrt, bin zu ihr gegangen und habe mich total zum Narren gemacht!»
«O nein – das können Sie gar nicht!»
Wie immer, wenn sie an die Szene mit Mrs Boynton denken musste, wurde Sarah puterrot.
«Ich fühlte mich richtiggehend erhaben, als ob ich eine Mission zu erfüllen hätte! Und als mich Lady Westholme dann später leicht schief ansah und sagte, sie hätte mich mit Mrs Boynton sprechen sehen, dachte ich, dass sie vielleicht alles mit angehört hatte, und kam mir endgültig wie ein kompletter Idiot vor.»
Poirot fragte: «Was genau hat die alte Mrs Boynton zu Ihnen gesagt? Können Sie sich an ihre genauen Worte erinnern?»
«Ich glaube schon. Sie haben nämlich einen ziemlichen Eindruck bei mir hinterlassen. ‹ Ich vergesse nichts › , sagte sie. ‹ Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas – keine Han d lung keinen Namen, kein Gesicht. ›» Sarah erschauerte. «Sie sagte es so bösartig – und ohne mich dabei auch nur anzusehen. Mir ist – mir ist, als könnte ich sie jetzt noch hören…»
Poirot sagte freundlich: «Und das hat einen solchen Eindruck auf Sie gemacht?»
«7a. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen – aber manchmal träume ich von ihr, wie sie genau diese Worte sagt, und sehe ihr böses, hämisches, triumphierendes Gesicht. Grässlich!» Ein Schauer überlief sie. Dann sagte sie plötzlich geradeheraus:
«Monsieur Poirot, vielleicht sollte ich Sie das nicht fragen, aber sind Sie in dieser Angelegenheit zu einem Schluss gekommen? Haben Sie etwas Entscheidendes herausgefunden?»
«Ja.»
Er sah, wie ihre Lippen zitterten, als sie fragte: «Was?»
«Ich habe herausgefunden, mit wem Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Er sprach mit seiner Schwester Carol.»
«Mit Carol – natürlich!» Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: «Haben Sie ihm gesagt – haben Sie ihn gefragt – »
Es war zwecklos. Sie konnte nicht weitersprechen. Poirot sah sie ernst und mitfühlend an. Dann sagte er ruhig:
«Ist das – so wichtig für Sie, Mademoiselle?»
«Wichtiger als alles!», sagte Sarah. Sie straffte die Schultern. «Ich muss es einfach wissen.»
Poirot sagte ruhig: «Er versicherte mir, dass es ein hysterischer Ausbruch war – mehr nicht! Dass er und seine Schwester sehr aufgewühlt waren. Er sagte mir, dass die Idee, bei Tageslicht besehen, beiden phantastisch erschien.»
«Ich verstehe…»
Poirot sagte sanft: «Miss Sarah, wollen Sie mir nicht sagen, wovor Sie Angst haben?»
Sarah wandte ihm ihr blasses, verzweifeltes Gesicht zu.
«An dem Nachmittag – waren wir zusammen. Und als er ging, sagte er – dass er etwas unternehmen werde – jetzt gleich, solange er noch den Mut dazu habe. Ich dachte, dass er nur – dass er es ihr nur sagen wollte. Aber angenommen, er wollte…»
Ihre Stimme erstarb. Sie stand wie erstarrt da und rang nach Fassung.
Dreizehntes Kapitel
N adine Boynton trat aus dem Hotel. Als sie unsicher zögerte, eilte ein wartender Mann herbei.
Mr Jefferson Cope war unverzüglich an der Seite seiner Herzensdame. «Wollen wir diesen Weg nehmen? Ich glaube, es ist der angenehmste.»
Nadine willigte stumm ein.
So gingen sie dahin, und Mr Cope redete. Die Worte kamen leicht, wenn auch etwas monoton über seine Lippen. Es steht nicht fest, ob er bemerkte, dass Nadine nicht zuhörte. Als sie auf den steinigen, mit Blumen bewachsenen Hügel abbogen, unterbrach sie ihn.
«Entschuldige, Jefferson. Ich muss mit dir reden.»
Ihr Gesicht war blass geworden.
«Gewiss, natürlich, Liebes. Ganz, wie du willst, aber bitte quäle dich nicht.»
Sie sagte: «Du bist viel klüger, als ich dachte. Du weißt bereits, was ich dir sagen will, nicht wahr?»
«Es ist nun einmal eine Tatsache», sagte Mr Cope, «dass gewisse Dinge alles verändern. Mir ist vollkommen klar, dass unter den gegenwärtigen Umständen bestimmte Entscheidungen noch einmal überdacht werden müssen.» Er seufzte. «Du musst tun, was du für richtig hältst, Nadine, und was dir dein
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