Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
O’Neill in den Augen radikaler Anhänger des Islams und anderer Glaubensrichtungen die Verderbtheit seines Landes und seiner Zeit verkörperte. In den Vereinigten Staaten war dies eine Zeit, in der die Menschen spirituell zu Extremen getrieben wurden. Die komfortable Moralität der Mitte war ebenso auf dem Rückzug wie die herkömmlichen Glaubensbekenntnisse, die in die Bedeutungslosigkeit abglitten. Unterdessen verwandelten die rasch wachsenden fundamentalistischen Kirchen die politische Landschaft. Der Dogmatismus der religiösen Rechten trat an die Stelle der sexuellen Dekadenz der Clinton-Präsidentschaft. Auch John O’Neill persönlich war zwischen Verdorbenheit und extremer Frömmigkeit hin- und hergerissen. Er war ein Ehebrecher, Schürzenjäger und Lügner. Er war ein geltungssüchtiger Materialist. Er liebte die Berühmtheit und Markennamen, und er lebte über seine Verhältnisse. Diese Eigenschaften benannten genau jene Stereotype, die Bin Laden heranzog, um Amerika zu beschreiben. Aber nun versuchte O’Neill, eine spirituelle Rettungsleine zu fassen zu bekommen.
Er hatte sich von der katholischen Kirche gelöst, nachdem er Valerie kennen gelernt hatte. Sie war die Tochter eines fundamentalistischen Predigers in Chicago. O’Neill liebte Gottesdienste, in denen den Gläubigen mit dem Fegefeuer gedroht wurde, leitete gleichzeitig jedoch eine landesweite Untersuchung gewalttätiger Abtreibungsgegner durch das FBI. So wie Val sah er nun die Macht und die Gefährlichkeit der fundamentalistischen Überzeugungen. Diese Leute besuchten ganz ähnliche Kirchen wie sie, doch sie sehnten sich nach ekstatischen Erfahrungen, die ihnen die traditionellen Konfessionen nicht bieten konnten. Der Unterschied war, dass die Abtreibungsgegner bereit waren, im Namen Gottes zu töten. Als O’Neill und Val nach New York zogen, besuchten sie die würdevolle Marble Collegiate Church an der Fifth Avenue, in der Norman Vincent Peale seine zuversichtliche Philosophie des „positiven Denkens“gepredigt hatte. Dies war ein Zufluchtsort, aber O’Neill war zu rastlos für eine derart behäbige Religion.
Nach dem Zwischenfall mit Val in dem geheimen FBI-Standort begann O’Neill, täglich die Bibel zu lesen. Im Jemen lag neben einer neuen Biografie von Michael Collins eine Bibel auf seinem Nachttisch. Im Frühjahr 2001 wandte er sich erneut dem Katholizismus zu und nahm jeden Morgen an der Messe teil. Er sagte Val, dass er einen Priester um Beistand gebeten habe, um das Problem mit seiner Scheidung zu klären. Im August unterzeichnete seine Frau Christine eine Gütertrennungsvereinbarung. Sie erhielt die Vormundschaft für die Kinder und konnte das Haus in Linwood (New Jersey) behalten. Aber die Aussicht auf die Freiheit schien die spirituelle Last, die auf seinen Schultern ruhte, nur zu vergrößern.
O’Neill kaufte sich ein Buch mit dem Titel Brush Up on Your Bible! ( Poliere Deine Bibelkenntnisse auf! ). Als Tochter eines Geistlichen kannte Val die Heilige Schrift sehr viel besser als O’Neill, so fleißig er sie auch studierte. Sie stritten heftig über die Frage der Erlösung. Er glaubte, eine Seele werde durch gute Taten gerettet, während Val meinte, dies sei nur durch den Glauben an Jesus Christus möglich. Sie hatte stets das bedrückende Gefühl, dass John verdammt sei.
Kurz nach seiner Rückkehr aus Spanien stieß O’Neill im Haus auf ein Kinderbuch mit dem Titel The Soul Bird . Val machte sich gerade im Bad zurecht, um zur Arbeit zu gehen, als O’Neill hereinkam, um ihr aus dem Buch vorzulesen. Sie hörte nur mit einem Ohr zu. Das Buch handelt von einem Vogel, der auf einem Fuß in unserer Seele steht.
Dies ist der Seelenvogel.
Er fühlt alles, was wir fühlen.
O’Neill, der harte Kerl, der seine Dienstwaffe um das Fußgelenk gebunden hatte, las ihr vor, dass der Seelenvogel gepeinigt umherlief, wenn wir verletzt wurden, und von Freude erfüllt war, wenn jemand uns umarmte. Dann kam er zu der Stelle, an der es um die Schubladen ging:
Möchtest du wissen, woraus der Seelenvogel gemacht ist?
Nun, es ist ganz einfach: er ist aus Schubladen gemacht.
Diese Schubladen kann man öffnen, denn für jede gibt es einen eigenen Schlüssel!
Valerie war vollkommen verblüfft, als O’Neill zu schluchzen begann. Aber er las weiter über die Schubladen - eine für die Fröhlichkeit, eine für die Traurigkeit, eine für die Eifersucht, eine für die Zufriedenheit - bis seine Stimme von den Tränen erstickt
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