Der Tod wirft lange Schatten
stumm.
»Aufschließen!«
Eine halbe Stunde später saß Branka wieder auf dem Motorrad. Sie hatte die Übersetzerin gefesselt und geknebelt, nachdem sie den Namen des Alten erfahren hatte und in welcher Verbindung die Frau zu ihm stand. Sie wußte nun alles von Irina, und auch, daß Galvano sowohl im Besitz der Dokumente als auch des Koffers war, den er im Bahnhof abgeholt hatte. In der Via Diaz klingelte Branka an mehreren Wohnungen, außer an seiner. Stimmensalat im Lautsprecher der Gegensprechanlage, doch irgend jemand betätigte den Türöffner. Sie nahm den Aufzug in den letzten Stock und sah das Namensschild an der Tür. Eine Weile lauschte sie auf Geräusche aus der Wohnung. Nichts. Auch auf ihr Klingeln und Klopfen erfolgte keine Reaktion. Immer wieder versuchte sie es. Der Alte mußte weggegangen sein, während sie hinter der Übersetzerin her war. Sie tastete die Tür ab und betrachtete eingehend das Schloß. Einbruchsicher. Branka setzte sich auf den Türabsatz und dachte nach. Wenn es so nicht ging, dann eben anders. Der Alte würde irgendwann zurückkommen, und so lange war keine Zeit zu verlieren.
Sie fuhr wieder nach San Giacomo hinauf und warf einen Blick auf das eingerüstete Haus, in das man Irina gebracht hatte. Im dritten Stock brannte Licht, nur ein Raum war dunkel. Sie zog sich am Gerüst empor, das von einer grünen Plane zur Straße hin abgeschirmt war, und sah kurz darauf die beiden Typen in der Küche an einem Tisch sitzen und Karten spielen. Sie hörte das Aufschlagen der Hände beim Ablegen. Sie tranken Bier. Der Tisch war voll leerer Flaschen und überquellender Aschenbecher. Das Fenster stand offen. Doch wo war die junge Frau, die sie gewaltsam hierher gebracht hatten? Branka spähte durch das dritte Fenster in die Dunkelheit. Vergebens. Sie beschloß, kurzen Prozeß mit den beiden zu machen und hatte leichtes Spiel mit ihnen. Branka durchsuchte die Wohnung, öffnete die dritte Tür und machte das Licht an. Sie erschrak, als sie Irina in ihrer Folterkammer sah, die Augen aufgerissen in einer Mischung von Angst und Hoffnung. Irina, die nicht wußte, ob diese Unbekannte Gefahr oder Befreiung brachte.
Irinas Kopf war blutverschmiert und ein Auge geschwollen, Hämatome am ganzen Körper. Was hatten die Schweine mit ihr gemacht? Vorsichtig löste Branka ihre Fesseln, sammelte die Kleider auf, die verstreut auf dem Boden lagen, und legte sie aufs Bett. Mühsam nur richtete sich Irina auf, sie weinte und zog sich unter Schmerzen an, während Branka in die Küche zurückging. Wäre Irina nicht taub gewesen, dann hätte sie das Knacken der Nackenwirbel ihrer Folterknechte gehört.
*
Noch einmal wollte Mia bei »da Gigi« zu Abend essen, wie bei ihrer Ankunft in Triest.
Am Nachmittag war sie auf den Friedhof zum Grab der Tante gegangen und hatte einen Strauß frische Blumen darauf gestellt. Sie hatte sich auf die Grabumfriedung gesetzt und die Tante um Vergebung gebeten. Mit leiser Stimme hatte sie ihren Jammer beklagt und lange vor sich hin geredet.
Wieder standen ihre beiden Koffer gepackt im Hausflur, wie damals, als sie sie nach ihrer langen Anreise ins Haus geschleppt hatte und gleich losgegangen war, um ein paar Schritte durch Servola zu machen.
Sie hatte die Karte des Taxifahrers herausgesucht, der sie damals vom Flughafen zum Haus der Tante brachte. Gut gelaunt hatte er versprochen, Mia um halb sechs am nächsten Morgen abzuholen. Was gab es Besseres, als einen Arbeitstag mit einem guten Verdienst zu beginnen?
Sie hatte Kopfschmerzen vorgeschützt, als Calisto sie am Nachmittag in der Stadt bedrängt hatte. Der verfluchte Kommissar hatte es geschafft, daß sie einander nicht mehr trauten. Calisto hatte Mia im Verdacht, ihm nicht zu glauben und ihm nicht alles zu erzählen, und Mia hatte große Mühe, Calisto nicht einfach alles zu gestehen und ihm zu schildern, was im Val Rosandra vorgefallen war. Wie Angelo sie zu Boden geworfen und sich auf sie gestürzt hatte. Und wie er plötzlich zusammengebrochen war. Sie wollte nur weg. Weit weg. Calisto wollte unter allen Umständen wissen, was sie dem Polizisten erzählt hatte. Aber sie konnte nichts sagen. Die Leichtigkeit zwischen ihnen war verflogen. Alles war schwer und bedrückend. Am Ende protestierte Calisto nicht einmal mehr, als Mia vorschlug, sich erst am nächsten Tag wiederzusehen.
Mia wartete, bis es dunkel war. Sie ging die Hauptstraße entlang bis zu dem Aussichtspunkt, an dem sie vor siebzehn Jahren einmal mit der Tante
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