Der Tod wirft lange Schatten
halbeingerissener Maschendrahtzaun war dicht von wilden Brombeersträuchern, Efeu und den Fangarmen einer blühenden Glyzinie überwuchert. Das Tor wurde nur noch von den wilden Pflanzen in den Angeln gehalten. Die verrostete Kette mit dem schweren Vorhängeschloß hätte es nicht gebraucht, um den Zugang zu verhindern. Ohne Machete kam niemand zu der flachen Lagerhalle aus dunkelroten Ziegelsteinen durch, die hinter dem Gestrüpp zu sehen war. Und hoch oben lief die Fahrbahn der Schnellstraße darüber, die von mächtigen Stahlbetonpfeilern getragen wurde.
Mia versuchte vergeblich, das Vorhängeschloß zu öffnen. Der Schlüssel paßte zwar, doch ließ er sich nicht drehen. Der Rost hatte sich seit Jahren in das Schloß gefressen. Sie trat mit dem Fuß gegen das Tor, das tatsächlich ein wenig nachgab. Mia zwängte sich gerade durch die enge Öffnung, als ein Auto hinter dem Cinquecento hielt und der Gehilfe der Notarin ausstieg.
»So ungeduldig«, rief Calisto lachend. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Mit Kraft zog er die beiden Torflügel so weit auseinander, daß Mia sich durchquetschen konnte. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken und seine Blicke auf ihrem Körper. Nun stand sie auf der anderen Seite des Maschenzauns und wagte nicht, sich zu rühren. Sie war in der Falle, die Stacheln der wilden Brombeersträucher drangen durch ihre Kleidung.
»Und jetzt?« fragte Calisto. »Es ist besser, Sie kommen zurück. Wir brauchen jemand, der uns den Weg freimacht.«
*
Am Nachmittag versuchte sie es noch einmal. In dem kleinen Schuppen, der als Garage für den Cinquecento gedient hatte, fand sie, was sie brauchte: Gartenschere, Säge, Axt, Rostlöser, Gummistiefel und ein paar dicke Handschuhe. Auch wenn sie in Sydney studierte, war sie ein Mädchen vom Land geblieben und wußte, wie man mit Werkzeug umgeht. Sie warf alles in den Fiat und fuhr, diesmal ohne Umwege, ins Industriegebiet zurück. Sie staunte, als sie vor der Einfahrt zu dem verwahrlosten Gelände den Wagen Calistos sah. Am Tor fehlte die Kette, und ein schmaler Pfad war durch das Gestrüpp freigeschlagen. Mia zog Gummistiefel und Handschuhe über und griff nach der Axt. Sie sah drollig aus in ihrem engen ärmellosen Hemdchen, das über dem Busen spannte, den knappen Shorts und diesem schwarzen Gummizeug, das ihr drei Nummern zu groß war. Sie bahnte sich den Weg durch das Gestrüpp und blieb immer wieder stehen, um zu hören, wo dieser Kerl war, der ihr das Abenteuer der Entdeckung verdarb. Seine Spur führte bis zum Tor der Halle, vor dem das Gras auf einer größeren Fläche niedergetreten war. Offenbar war er hier länger herumgelaufen. Sie sah Rostlöser aus dem Schloß tropfen, doch die schwere Stahltür bewegte sich nicht, als sie sie zu öffnen versuchte. Ihr Schlüssel drehte sich nicht einen Millimeter im Schloß. Die Spur Calistos führte um die Halle herum. Langsam folgte sie ihr und achtete darauf, möglichst leise aufzutreten. Als sie meinte, Schritte zu vernehmen, die auf Glasscherben traten, hielt sie erschrocken inne. Sie hob die Axt an und tastete sich zögernd weiter. Es war ihr unheimlich zumute, doch umkehren wollte sie nicht. Das Gelände hinter der Halle lag im Schatten der Schnellstraße, die mit dem gleichmäßigen Geräusch des fließenden Verkehrs über sie hinweglief. Das Gebäude stand nahe an einem der Betonpfeiler. Es roch stickig nach Katzenpisse und verwesendem Tier. Mia drückte sich an der Wand entlang bis zu einem Fenster, dessen verdreckte Scheibe eingeschlagen war. Steine waren zu einer Treppe aufgeschichtet. Sie spähte vorsichtig in die Halle und konnte in der Dunkelheit, die drinnen herrschte, nur wenig erkennen. Waren das Autos? Alte Maschinen? Mia stieg wieder hinab. Eine zweite Spur führte an der Halle vorbei. Sie ging vorsichtig weiter und stand schließlich vor einem Zaun, hinter dem eine Menge Autoschrott lagerte. Das mußte das illegale Depot der Karosseriewerkstatt sein, von der die Notarin gesprochen hatte. Der Zugang aus dieser Richtung war älter als die Schneise, die Calisto von vorne angelegt hatte. Hier gab es offenbar regelmäßig Besucher. Mia ging zurück zu dem Einstieg durch das eingeschlagene Fenster. Sie legte die Axt auf die Fensterbank, zog sich hoch und ließ sich vorsichtig in den Raum gleiten. Das ausgebrochene Glas krachte laut unter ihren Füßen. Sie duckte sich, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und huschte gebückt mit ihrer Axt weiter.
Was hier stand,
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