Der Tod wirft lange Schatten
gefragt.
»Sie fahren sicher zur Beerdigung.«
»Die Reise ist zu lang. Es hat keinen Sinn. Ich werde anders Abschied nehmen.«
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Mia schüttelte den Kopf. »Haben Sie schon gehört, wie lange die Beschlagnahmung des Lagers noch dauern wird und wer das Zeug dort gesammelt hat?«
»Noch wird inventarisiert. Am Nachmittag haben wir ein Zwischenergebnis und können die Sache dann besser einschätzen. Man hat mich deshalb auf die Präfektur bestellt. Zusammen mit Colonnello Canovella, den sie ja auch kennen.«
Mia hatte ihn nicht hereingebeten. Sie lehnte in der Haustür und hielt nach wie vor die Klinke in der Hand. Laurenti stand drei Stufen weiter unten im Vorgarten.
»Sie wissen nicht zufällig, wo Angelo ist?« fragte Laurenti.
»Keine Ahnung.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Am Nachmittag, bevor er verschwand.«
»Wo?«
»Wir waren schwimmen, doch dann kam der Anruf aus Australien. Er hat mich gleich zurückgebracht.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
Mia zögerte einen Augenblick. »Ich war die ganze Zeit hier«, sagte sie schließlich.
»Sie sind nicht ausgegangen?« fragte Laurenti.
»Nein.« Mia schluckte trocken. »Ich sagte doch schon, es war der Tag, an dem die Nachricht kam.«
Laurenti kratzte sich am Kopf und starrte die junge Frau schweigend an. Zerial hatte gesagt, daß die Spuren der zweiten Person im Val Rosandra zweifellos von einer Frau stammten. Dreißig Zentimeter langes, dunkelblondes Haar. So wie von Mia.
»Aber Sie wollten nach dem Schwimmen noch ausgehen?« fragte Laurenti.
»Ja. Aber dann habe ich abgesagt. Ich weiß wirklich nicht, was er später gemacht hat.«
Zerial hatte noch etwas gesagt, was Laurenti Sorgen machte. Der Leichnam wies so heftige Kratzspuren auf, daß ein Kampf stattgefunden haben mußte. Wie bei einer Vergewaltigung, hatte er erklärt. Und Spuren von rotem Nagellack hatte er gefunden. Laurenti wollte am Nachmittag hinfahren und sich den Körper selbst ansehen. Auch der Ohrring läge dann gereinigt und fotografiert bereit.
»Dann will ich Sie nicht länger belästigen. Wenn Sie einen Ohrring vermissen, rufen Sie mich an.« Laurenti warf einen Blick auf Mias Hand, als er sich verabschiedete. Ihre Nägel waren kurz geschnitten und unlackiert.
»Wenn sich etwas mit dem Lager tut, sagen Sie es mir«, bat Mia. »Ich muß mir ja überlegen, was ich mit dem Krempel mache!« Dann wies sie mit dem Kopf zum Nachbarhaus. »Die arme Rosalia ist völlig verzweifelt.«
»Ich glaube, sie wird viel Kraft brauchen. Vielleicht können Sie sich um sie kümmern, wenn sie von der Identifizierung zurückkommt. Sie sollte nicht alleine sein.«
»Haben Sie Angelo denn gefunden?« fragte sie. Der Mann machte es ihr verdammt schwer. Er bat sie um etwas, das sie nicht tun konnte.
»Es sieht so aus. Aber seine Mutter muß ihn identifizieren, wird ein schwerer Schock für sie sein. Aber auch Sie sollten nicht alleine sein«, sagte Laurenti. »Haben Sie jemanden?«
Mia erschrak, als sie sah, wie Sgubin die alte Rosalia am Arm zum Polizeiwagen führte. Wahrscheinlich würde sie zum ersten Mal in einem solchen Auto sitzen.
»Ich melde mich bei Ihnen«, sagte Laurenti und blickte auf die Uhr. Er mußte sich beeilen. In einer Viertelstunde begann die Pressekonferenz.
*
»Triest ist weder eine glückliche Oase, noch das Reich des Bösen«, sagte der Questore zu den Journalisten im Saal, bevor die alljährliche Kriminalstatistik bekanntgegeben und erläutert wurde. Neben den Vertretern der lokalen Presse und Fernsehstationen waren auch Medien von jenseits der Grenze präsent. Der Präfekt saß im Saal, ebenso einige Politiker aus der Stadt- und Landesregierung. »Es gilt, aufmerksam zu bleiben. Die Ausbildung unserer Beamten ist hervorragend, und Dank gesagt sei der guten Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft, den anderen italienischen Sicherheitskräften und den slowenischen Kollegen. Wir verzeichnen 282 Verhaftungen, 110000 Notrufe, 9000 Streifenwageneinsätze, ein paar tausend Einsätze zur Wahrung der öffentlichen Ordnung, 44 Verbote gegen Ultras unserer Fußballmannschaft, 9210484 Kontrollen an den Grenzen, 9200 zurückgewiesene illegale Einwanderer, 462 eingezogene Führerscheine, 9542 erteilte Aufenthaltsgenehmigungen, ein paar tausend Verlängerungen und ein paar tausend Ablehnungen. Aber machen wir uns keine Illusionen: Triest ist nur vordergründig eine ruhige Stadt mit relativ unbedeutender
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