Der Tod wirft lange Schatten
zweiten Tag ihres Aufenthaltes in der Stadt die Halle aufsuchen würde? Und seither stand stets eine Streife der Polizei oder der Carabinieri davor. An Mia hatte er sich nur herangemacht, weil er Zugang zu dieser einmaligen Waffenkammer haben wollte. Aber daß er sich in die junge Frau verlieben würde, hätte er niemals vermutet.
L’Orecchione war Händler aus Passion. Der Notarin, bei der er ein bescheidenes Salär einstrich, hätte er längst gekündigt, wenn sie für ihn keine ideale Quelle für neue Geschäftsmöglichkeiten gewesen wäre. Häuser, Wohnungen, Maschinen, Erbsachen und Menschen, alles was das Herz begehrte – und diese überarbeitete graugesichtige Frau, deren Büro ihr Leben war, roch den Braten nicht einmal.
*
Eng an die Hauswände gedrückt ging Laurenti in Richtung Rive, wo er den Wagen abgestellt hatte. Er suchte Schutz in den schmalen Schatten, den die Palazzi auf den Gehweg warfen. Er wollte rasch bei Orlando vorbeischauen und ihm den Namen des Arztes bringen, den Galvano genannt hatte. Vielleicht ließ sich Orlandos Versetzung doch noch verhindern. Sgubin hatte telefonisch berichtet, daß Rosalia bei der Identifizierung ihres Sohnes gefaßt gewirkt hatte. Nun galt es, die DNA der Haare und des Slips abzuwarten, die bei der Leiche gefunden worden waren. War das ein Mord? Ein verschluckter Ohrring, der zur Erstickung geführt hatte? Warum hatte der arme Kerl den Ohrring nicht zerkaut? Sgubin sollte in der Zwischenzeit die Marke »Toute de suite« ermitteln. Marietta könnte ihm dabei sicher helfen, hatte Laurenti geraten. Oder eine ihrer Freundinnen.
Als Laurenti die Via Roma überquerte, sah er Galvano mit dem Hund auf der anderen Seite des Canal Grande. Er war in ein gestenreiches Gespräch verwickelt und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Erst auf den zweiten Blick erkannte Laurenti, daß er versuchte, sich mit dem taubstummen Mädchen zu unterhalten, dem er vor einer Stunde in einer ungewöhnlich großzügigen Geste zehn Euro geschenkt hatte. Laurenti war alarmiert. Er mußte den Alten warnen. Mit dreiundachtzig wurde man leicht zum Opfer von Leuten, die es nicht gut meinten. Laurenti war davon überzeugt, daß hinter den um Almosen bettelnden Taubstummen eine Organisation stand, die von Leuten wie Galvano profitierte. Woher sonst sollten die sorgfältig in mehreren Sprachen gedruckten Kärtchen stammen und die immergleichen Gadgets, die sie auf die Tische legten? Handarbeit verzweifelter Personen war das wirklich nicht. Später würde er Galvano anrufen und ihm ins Gewissen reden. Diese Großzügigkeit war wirklich zu leichtfertig. Laurenti dachte daran, dem Streifendienst Bescheid zu geben, öfter mal unauffällig ein Auge auf Galvano und seine stumme Geliebte zu werfen. Er sollte es auf keinen Fall merken. Als Laurenti schon weitergehen wollte, sah er, daß das Mädchen dem Alten eine Mappe übergab, die er eilig in seiner Tasche verstaute. In was, um Himmels willen, war Galvano da verwickelt?
*
Sie hatte noch immer niemand zu Hause erreicht, und eine Nachricht wollte sie nicht hinterlassen. Für die Eltern wäre es eine Überraschung, Mia nach so kurzer Zeit schon wieder zu sehen. Doch ihr Entschluß stand fest, das Ticket hatte sie gekauft, als Rosalia mit dem Polizisten weggefahren war. Gleich nach dem Verkauf des Hauses würde sie Italien verlassen.
Mit dem Ticket in der Tasche fühlte sie sich schließlich besser. Sie aß ein Eis bei Zampolli und konnte sogar dem Polizisten, der mit gezücktem Block vor dem Cinquecento im Halteverbot stand, den Strafzettel ausreden. Normalerweise waren diese weißbehelmten Männer in der Stadt unerbittlich und spielten die kleine Macht, die ihnen die Uniform verlieh, mit sadistischer Lust aus. Doch Mia hatte Glück und kam mit einer Ermahnung davon.
Sie sang »The Ballad of Lucy Jordan«, während sie den Kleinwagen die vierspurige Superstrada am neuen Hafen entlang steuerte und verstummte erst, als sie vor dem Haus in Servola hielt. Vor dem Nachbarhaus stand schon wieder ein Wagen der Polizei, aus dem soeben der Assistent Laurentis ausstieg und ihr zuwinkte. Sie sah, wie er Rosalia beim Aussteigen half und beruhigend auf sie einredete. Dann kamen sie langsamen Schrittes auf ihr Auto zu.
Mia hatte keine Wahl. Sie mußte aussteigen. Es gab kein Entrinnen. Ihre gute Laune war schlagartig verflogen.
»Es ist Angelo«, sagte Rosalia mit matter Stimme. »Ich habe es gleich geahnt, als er nicht nach Hause gekommen ist.«
»Das ist ja
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