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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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für kurze Zeit.
    »Was war mit der Risiera?« fragte Mia.
    »Ich erzähle es dir ein andermal.«
    Doch Mia gab nicht auf. »Erzähl es mir doch, ich will es wirklich wissen.« Es war eine Möglichkeit, Rosalia abzulenken.
    »So etwas vergißt man nicht. Es war Krieg«, sagte Rosalia schließlich. »Damals war der Hang hier noch unbebaut und man konnte auf die ehemalige Reisschälerei hinuntersehen. Die Deutschen haben dort Menschen festgehalten. Einmal, noch am Anfang, sahen wir schwarzen Rauch aus einem Kamin aufsteigen, und entsetzlicher Gestank zog zu uns herauf. Man sagte, sie hätten die Toten verbrannt. Niemand konnte sich vorstellen, daß in der Risiera Leute gefoltert und umgebracht wurden. Manchmal drang auch laute Marschmusik herauf, meistens gegen Abend, damit man die Schreie nicht hörte. Ich hatte eine Freundin, die gegenüber wohnte. Eines Tages beschwor sie uns, daß wir sie nicht mehr besuchen kommen sollen, weil schreckliche Dinge passierten. Aber da wollten wir schon längst nicht mehr hinuntergehen. Niemand betrat die Straßen in der Nähe, wenn er nicht unbedingt mußte. Und dort drüben auf dem Monte San Pantaleone stand eine Flak der Deutschen. Es gab viele Tote bei den Bombardierungen. Nach den Deutschen kamen die Tito-Partisanen. Sie stellten die Gewehre zu Pyramiden auf und tanzten singend darum herum, ›Siri kolo, ai siri kolo‹. Zuerst waren deutsche Soldaten bei uns einquartiert, nachher Jugoslawen. Jedesmal mußten wir das Schlafzimmer räumen. Jedesmal gab es neue Dokumente, und zuletzt drückten uns die Tito-Funktionäre einen roten Stern in die Personalausweise. Die Mutter deiner Tante Alda hatte damals einen deutschen Soldaten versteckt. Direkt nebenan. Und der Bruder von Alda war ein Offizier der Partisanen und hat ihm trotzdem heimlich einen Passierschein besorgt, mit dem er nach Deutschland fahren konnte. Mein Bruder ist 1943 nach Deutschland deportiert worden und hat zwei Konzentrationslager überlebt. Er kam erst vier Jahre später zurück. Wir hatten schon geglaubt, daß er tot war. Ich habe schlimme Dinge gesehen. Aber ich will nicht mehr davon reden. Du kannst die Risiera besuchen. Wenn Angelo noch lebte, dann würde er dich begleiten.«
    Rosalia verstummte und trat ans Fenster. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Mia stand auf und umarmte sie, doch Rosalia schob sie weg.
    »Mach mit diesem Calisto Schluß«, schluchzte Rosalia. »Es ist alles seine Schuld.« Sie ging aus dem Zimmer, und Mia hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer ins Schloß fiel. Sie blieb alleine in der Küche zurück, starrte auf die Wand und dachte an das Flugticket, das sie gekauft hatte. Gott sei Dank war der Spuk bald vorbei.
    Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als es klingelte und kurz darauf Rosalias Schritte im Flur zu hören waren. Mia atmete erleichtert auf. Sicher waren es die Verwandten, die sich um Rosalia kümmern sollten, sie könnte sich dann rasch verabschieden. Doch die Stimme, die sie jetzt hörte, war die von Proteo Laurenti. Rosalia führte ihn in die Küche und bot ihm einen Stuhl an.
    »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich um ihre Nachbarin kümmern. Aber bleiben Sie doch sitzen«, sagte er zu Mia, die sich erheben wollte. »Wir haben nichts Geheimes zu besprechen. Ich wollte die Signora nur bitten, daß sie mir von Angelo erzählt.«
    *
    Als Laurenti vom Mittagessen mit Galvano in die Questura zurückgekommen war, hatte ihn ein Reporter der Tageszeitung mit der Frage überfallen, ob es Fortschritte gab bei den Ermittlungen über die Schmierereien gegen die Viehtransporte. Orlando hatte ihm die Fotos gezeigt. Sie hatten bei geschlossener Tür darüber gescherzt, daß es sich bei den Tierschützern wohl um eine Gruppe Ästheten handeln müßte. Selbst der Farbton der Schmierereien war auf die Schiffe abgestimmt, und die Kuh mit Sonnenbrille und Kalaschnikow war wirklich originell. Doch wie waren sie unbemerkt an die Liegeplätze gekommen? Der Höhe der Aufschriften nach zu schließen hatten sie vom Wasser aus operiert. Von einem Boot ohne Motor aus.
    Mit freundlichen Worten wimmelte Laurenti den Journalisten ab und schaute lächelnd in die Kamera des Fotografen. Als fehlten Aufnahmen von ihm im Archiv der Zeitung! In seinem Büro wurde er Zeuge eines dramatischen Vorgangs. Sgubin befand sich mitten in einem Verhör und spielte den harten Ermittler. Auf dem Stuhl vor ihm saß L’Orecchione, Calisto, mit übereinandergeschlagenen Beinen, eine

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