Der Todesbote
besonders stolz darauf, dass man gerade ihre kleine Realschule, in der sie arbeitete, so reichlich mit technischen Geräten für den Unterricht ausgestattet hat. Viele der Schüler schätzen die vielfältigen Demonstrationsmöglichkeiten im Physikunterricht. Einem Schüler liegt dieses Fach jedoch nicht. Die zu erlernenden Formeln sind ihm ein Graus, und dies missfällt vor allem seiner Lehrerin. So sehr sie sich auch bemüht, den Schüler für das Lehrfach zu interessieren, so sehr zieht er sich zurück.
Die streng nach hinten gekämmten, grauen Haare und die große, starke Brille verleihen der Pädagogin eine gewisse Strenge und Autorität. Anatolij kann die Lehrerin nicht ausstehen. Wen wundert es, dass dieser Schüler nur mit Abscheu an die Physikstunden zurückdenkt. Diese Lehrerin erreicht es schließlich auch, dass der Schüler Anatolij Onoprienko von der Schule verwiesen wird.
»Das wird sie noch bereuen«, vertraut Onoprienko damals einem Freund an. »Sie wird sich noch an mich erinnern, wenn ich sie eines Tages wieder besuchen werde. Das hat sie nicht umsonst mit mir gemacht, sie wird noch dafür büßen, irgendwann.«
Onoprienko macht sein Versprechen wahr Der unrühmliche Abgang von dieser Schule wird für Anatolij Onoprienko sein Leben lang zum Albtraum. Alle negativen Erlebnisse auf seinem Berufsweg führt er auf die schlechte, in seinen Augen ungerechte, Beurteilung dieser Lehrkraft zurück.
Immer wieder denkt er zurück: Hätte er diese Schule erfolgreich beenden können, hätten ihm sicher lukrativere, gute Arbeitsmöglichkeiten im ganzen Lande offen gestanden.
Es vergehen Jahre, bis er wieder heimlich vor den Pforten dieses Hauses steht. Oft steht er stundenlang vor dem Haus und beobachtet nur drei nebeneinander liegende Fenster in diesem Gebäude. Er weiß, hinter ihnen verbirgt sich der Physiklehrraum der Schule. Wie zu seiner Zeit lehrt in diesem Saal noch immer dieselbe Lehrerin, Frau Ewgenija Seitschenko. Die nun fast 60-Jährige mit der großen Brille auf der Nase hat ihre inzwischen fast völlig ergrauten Haare noch immer zu einem Knoten gebunden.
Onoprienko kennt nicht nur die Arbeitsstätte dieser Frau.
Längst weiß er, wo sie wohnt, wie sie lebt und wie sich ihre Familie entwickelt hat. Durch seine heimlichen nächtlichen Besuche, auch vor ihrem Privathaus, ist ihm weiter bekannt, dass sie einen Sohn hat. Der Sohn ist inzwischen verheiratet und er lebt mit seinen zwei kleinen Kindern in dem Haus seiner Mutter.
1995 zieht es Onoprienko ein letztes Mal zu dem Haus der verhassten Lehrerin. Unzählige Morde hat er zwischenzeitlich begangen. Kinder und Frauen hat er niedergemetzelt in einem Rausch der Rache, gegen alle und gegen alles. Doch die Krönung all seiner Verbrechen sollte in diesem kleinen Einfamilienhaus geschehen.
Diese Lehrerin sollte einen Vorgeschmack auf die Hölle erleben. Das war sein erklärtes Ziel.
Der grenzenlose Hass gegen diese Frau lässt Onoprienko in Depressionen verfallen. Erstarrt in sich selbst, sucht er nach einer Erklärung seines verpfuschten Lebens. Und er findet sie.
Wieder gerät er in den Bannkreis des Bösen. Er will ihn ausmerzen, ein für alle Mal, den Stachel, der sein Leben zum Schlechten gewendet hat. Sein Alltag wird geprägt von der Erinnerung. Er will die Erinnerungen verdrängen, doch es gelingt ihm nicht. In seiner Rache nimmt er keine Notiz mehr von der Gefahr, erwischt zu werden. Er will das Schreckliche, das seine Seele zermartert, ausmerzen. Apathisch sitzt Onoprienko da und ist innerlich hingerissen vom Bild der zerstörten Seele seiner ehemaligen Lehrerin. Zusammengekrümmt soll sie in ihrem Blut auf den Tod warten. Schreien, ja flehen soll sie um ihr Leben und ihm Genugtuung leisten für alles, was sie ihm angetan hat.
Gedankenverloren sitzt Onoprienko im Zug, der ihn in seine Vergangenheit bringen soll. Er blickt aus dem Fenster, doch die Landschaft, die an ihm vorüberfliegt, berührt ihn nicht.
Seine düsteren Gedanken gelten nur einer Person, der Physiklehrerin Ewgenija Seitschenko.
Onoprienkos Ziel ist ein kleines verschlafenes Nest in der Ukraine. Aufgrund der späten Stunde ist kein Mensch mehr auf der Dorfstraße zu sehen. Durch die Fenster der kleinen Höfe des Dorfes flimmert blauweißes Licht. Wer sich den Luxus eines Fernsehers leisten kann, sitzt gespannt vor der »Kiste«, wie man auch in der Ukraine zu den Geräten, die den Alltag vergessen lassen, sagt.
Gemütlich hat sich die gesamte Familie Seitschenko am
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