Der Todesbote
ukrainischen Journalisten Petr Tarasjuk. An einem Abend nach der Verhaftung des Killers gibt der Reporter im Garten des Waisenhauses ein Interview über seine damaligen Beobachtungen: »Während seiner Zeit in diesem Kinderheim hielt sich Anatolij Onoprienko am liebsten unter diesen 13
Akazienbäumen mit den blutroten Blättern auf. Als Kind hat er diese 13 besonderen Bäume entdeckt. Schon als Schüler verbrachte er die meiste Freizeit unter ihren mächtigen Wipfeln. Sie zogen ihn fast magisch an. Ich glaube, er war damals schon den Pakt mit dem Teufel eingegangen.«
Der Journalist hat sehr viel Zeit damit verbracht, das Leben Onoprienkos, vor allem die Jahre seiner Jugend, zu recherchieren. Er sagt: »Makabre Geschichten werden über diesen Mann erzählt, nachdem man weiß, zu welchen Gräueltaten er fähig war. Jeder will ihn besser gekannt haben.
Es bereitete mir sehr viel Arbeit, Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden und auseinander zu halten. Ich bin mir sicher, dass dies stimmt: Nach jedem Mord ist er in der Nacht heimlich an diesen Ort zurückgekehrt. Er stellte sich an einen der Bäume, hob seine Arme hoch und berührte die Rinde dieser mächtigen Riesen. Er tat es vermutlich, um neue Energie zu tanken. Er verbrachte so die ganze Nacht. Erst bei Sonnenaufgang verschwand er. Die Nachbarn sagten, sie hatten des Öfteren an dieser Stelle nachts einen Mann gesehen. Als sie durch das Bellen der Hunde erwachten, konnten sie jedoch nur noch einen davoneilenden Mann erkennen. Es war ganz sicher Anatolij Onoprienko.«
Der Journalist macht eine kurze Pause und berichtet sichtlich erregt weiter: »Ich habe die Heimleitung gefragt, ob die Zahl 13 eine Rolle in dem Leben dieses Jungen gespielt hat, solange er sich hier aufhielt. Sie bestätigten mir, dass diese Zahl Onoprienkos Glückszahl war. Das habe er selbst immer wieder behauptet.«
Der Journalist wiederholt mehrmals, dass diese Bäume blutrote Blätter tragen. Er hat sehr viele Bilder und Videoaufnahmen von den Opfern gesehen; vielleicht hat ihn das Blut der Opfer ein wenig inspiriert.
Die Lebensgeschichten von Serienmördern regen die Fantasien vieler Menschen an, vielleicht ganz besonders in diesem Lande der Mythen und Märchen.
Vielleicht denkt der Mann, der sich ausführlich mit der Lebensgeschichte des Anatolij Onoprienko beschäftigt hat, an den Waldgeist »Lesij«, einer volkstümlich empfundenen Gestalt. »Lesij« ist ein graufarbiger Riese mit endlos langen Klauen an seinen Fingern. Den gesamten Körper bedecken zottelige, verfilzte Haare. Meist zeigt er sich in der Gestalt eines Mannes. Seine Augen leuchten wie glühende Kohlen. In den Mythen ist er der Herr, und wer sein Haupt vor ihm bis zu Erde verneigt, ist vor ihm sicher.
Onoprienkos folgenschwerer Hass auf
seine Lehrerin
Einst stand die Ukraine in der sowjetischen Industrialisierungspolitik an vorderster Stelle. Mit den Produktionsstätten für Eisen und Stahl im Ural und in der Ukraine hatte die Sowjetunion in den 60er-Jahren sogar die USA überflügelt.
Das am Dnjepr liegende ukrainische Industriezentrum in Saporoschje zählte zu den bedeutendsten Eisengießereien der ganzen Welt. Die Bevölkerung hatte Arbeit und Brot. Dann versank das vormals so mächtige russische Reich in Armut.
Die einst stolzen Lieder verstummten zu melancholischen Trauerliedern.
Schon bald wurde in den Industriestaaten Eisen durch Kunststoffe ersetzt. Die Eisenindustrie der Ukraine musste einen herben finanziellen Rückschlag erleiden. Tiefgreifende Veränderungen in der Struktur der Wirtschaft wurden notwendig. Doch so sehr man sich anstrengte, die Schwerindustrie konnte nicht wiederbelebt werden, denn die erhofften und notwendigen Subventionen durch den Staat blieben aus. Das Land fiel von einer Reform in die andere. Den miserabel entlohnten Arbeitern blieb letztendlich Hunger und Not.
Plötzlich erinnerte man sich wieder an die beschwörenden Worte Lenins, der 1923 niederschrieb:
»Wir müssen uns, koste was es wolle, zur Erneuerung unseres Staatsapparates die Aufgabe stellen, erstens: zu lernen, zweitens zu lernen und drittens zu lernen …«
Sicher hatte der damals todkranke Lenin diese beschwörende Formel nicht nur an die Schüler des Landes gerichtet. Doch nun sollten diese Worte plötzlich zum Leitgedanken des vernachlässigten Bildungswesens des ganzes Landes werden.
So wurden Physik und Chemie verstärkt gelehrt, auch in den entlegensten Schulen des Landes.
Die Lehrerin Seitschenko ist
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