Der Todesbote
noch einmal in seinen Rückspiegel und ist froh, dass kein anderes Kraftfahrzeug gerade in diesem Augenblick vorbeifährt und ihn niemand dabei beobachtet, wie er die Flasche einlädt. Behäbig verlässt er sein Fahrzeug. Er geht zur Fundstelle und stellt erfreut fest, dass es sich dabei um einen fast neuen Gasbehälter handelt. »Die Fahrt hat sich gelohnt«, denkt er und schließt seine Ladefläche auf. Er hebt die Flasche auf und verstaut sie. Bevor er die Türe wieder schließt, blickt er noch einmal die Landstraße entlang und schaut, ob ihn denn auch wirklich niemand gesehen hat. Beruhigt, dass sich kein Fahrzeug weit und breit befindet, dreht er sich zu seinem Wagen um. Er will gerade den Schlüssel in das Schloss einführen, als er einen mächtigen Schlag am linken Ellenbogen seines Armes verspürt. Er fällt zu Boden. Die Schmerzen werden unerträglich. »Das war ein Schuss«, stellt er noch fest.
Instinktiv stemmt sich der kräftige Mann hoch, wirft die Türe ins Schloss und rennt zum Führerhaus. Er spürt das Blut, das aus seiner Lederjacke fließt. Er reißt mit letzter Kraft die Türe auf, springt auf seinen Fahrersitz, legt einen Gang ein und fährt davon. »Nur weg von hier«, ist sein einziger Gedanke.
Diesem Mann gelang es als einzigem Menschen, sich mit viel Glück aus den Klauen der Bestie der Ukraine zu befreien.
Er hatte einen Angriff Onoprienkos überlebt.
Was genau war vorgefallen? Wütend war Onoprienko aus seinem Versteck gerannt. Er hatte die Gasflasche als Köder ausgelegt und nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet ein Lastwagen anhalten würde. Wegen der großen Ladefläche konnte er den Fahrer nicht sehen. Onoprienko hatte nur einen Bruchteil an Zeit, um zu schießen. Ob er den Fahrer mit dem Schuss getroffen hatte, wusste er nicht. Ihm war bekannt, dass viele Lkw-Fahrer bewaffnet sind. Deswegen wartete er ab, wie der Fahrer reagieren würde, wenn er dazu überhaupt noch in der Lage sein sollte. Onoprienko schlich sich aus seinem Versteck, die Waffe stets im Anschlag. Nur noch wenige Meter waren es bis zum Wagen. Da sah er den Fahrer einsteigen.
Onoprienko wollte die Beifahrertür aufreißen, doch sie war verschlossen. Der Wagen setzte sich bereits in Bewegung, und Onoprienko konnte nur noch vom Wagen springen.
Wutentbrannt schoss er dem Lkw hinterher.
Tags zuvor hatte er die Gasflasche geklaut. Nun war sie weg, und ein neues Fahrzeug war auch nicht in Sicht. Wie sollte er hier ein anderes Auto stoppen, ohne Lockmittel? Mit einer unsäglichen Wut und großer Enttäuschung verlässt er den Platz seiner einzigen Niederlage.
Jahre später berichtet der Lkw-Fahrer Iwan Bakanetz selbst über den weiteren Verlauf seiner Fahrt an diesem Ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1995. Er hebt den Hemdsärmel seines linken Armes. Man kann eine circa 10 cm lange Operationsnarbe oberhalb des Ellbogens erkennen. Er deutet darauf und erzählt: »Hier ist die Kugel eingeschlagen.« Dann zeigt sein Finger auf das Ende der Narbe: »Und hier ist sie wieder ausgetreten. Eine Kugel befindet sich noch im Arm. Die Ärzte konnten sie bisher nicht herausoperieren. Noch heute spüre ich sie unter meiner Haut.«
Der drahtige, hart wirkende Mann berichtet, wie es ihm ergangen ist nach der Flucht: »Schon nach wenigen Kilometern hatte ich wahnsinnige Schmerzen in meinem linken Arm. Ich fuhr in die nächste Stadt, geradewegs in ein Krankenhaus. Als die Ärzte sahen, dass es sich bei mir um eine Schussverletzung handelte, stellten sie unentwegt Fragen. Ich war froh, als man mich zum Operationssaal fuhr. Nachdem ich wieder aus der Narkose erwacht war, besuchte mich ein Polizist. Als er mir sagte, dass es sich wahrscheinlich um einen Schuss aus der Waffe eines Försters gehandelt habe, da die Waffe ein Schrotgewehr gewesen sei, war ich doch sehr erleichtert.«
Erst Monate später sollte Iwan erfahren, wer auf ihn gezielt hatte. Er erzählt: »Als mir bekannt wurde, wer mich da angeschossen hat und ich später in den Zeitungen die Bilder seiner Opfer sah, wurde mir erst bewusst, welch unglaubliches Glück ich hatte. Als die Polizei mich erneut zu den Vorfällen vernahm, lasen sie mir die Aussage Onoprienkos zu diesem Tag vor. Er hatte zu Protokoll gegeben: ›Natürlich hätte ich dieses Schwein abgeschossen. Ich brauchte doch ein Auto. Ich hatte nicht mehr viel Sprit im Tank. Und wer am Feiertag fährt, der hat bestimmt etwas geladen, das ich hätte verkaufen können. Meine Gasflasche war auch weg. Das
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