Der Todesbote
Gerichtssaal, in dem sie dem Mörder ihrer Tochter und ihrer Enkelkinder gegenüberstehen wird. Sie ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Freunde und Verwandte begleiten sie und greifen ihr unter die Arme, sie stützen sie. Sie wollen ihr Halt geben in der schwersten Stunde ihres Lebens.
Die vor dem Saal postierten Beamten erkennen die Situation, in der sich die Frau befindet. Aufopfernd versuchen sie Trost zu spenden. Sie begleiten sie zu einem der Zuhörerplätze im überfüllten Saal. Noch kann sie den Angeklagten nicht sehen.
Geschickt versperren die Polizisten den Blick der Frau zu Anatolij Onoprienko, der seelenruhig in seinem Käfig sitzt.
Viele der Besucher sind Stammgäste. »Wann sieht man auch schon einen Mörder dieses Kalibers«, sagt eine Besucherin und fügt hinzu: »Mörder mit ein paar Morden haben wir schon immer gehabt. Aber dieses Verbrechen ist das Schlimmste, von dem ich je gehört habe.«
Über 50 Morde sorgten für ein kollektives Rachegefühl unter den Bürgern. Eine Dame Mitte sechzig glaubt schon vor Beginn der Verhandlung das richtige Urteil für diesen Menschen zu kennen: »Man darf ihn auf alle Fälle nicht zum Tode verurteilen. Man sollte ihn stattdessen in eine Einzelkammer sperren, damit er völlig alleine bleibt. Dabei sollte man ihm ständig die Kinderstimmen vorspielen. Die Kinder sollten ununterbrochen weinen und immer wieder fragen: Warum tötest du uns, lieber Mann? Warum tötest du uns? Er soll ständig Kinder weinen und schreien hören.«
In dem großen Saal haben hunderte von Menschen Platz genommen. Sie alle wollen Zeugen sein eines Sensationsprozesses, wie er noch nie in Zhitomir stattfand. Doch zunächst musste sich jeder der Besucher dieses Gerichtssaales einer aufwendigen Personen- und Gepäckkontrolle unterziehen. Man hatte am Eingang des Saales eine Sicherheitsschleuse aufgestellt, wie sie in den Flughäfen verwendet wird.
Unzählige Sicherheitsbeamte kontrollieren und sichern den Saal. Man hat Angst, einer der Besucher könnte diesem Ungeheuer nach dem Leben trachten. Seine Sicherheit ist oberstes Gebot.
In dem modern eingerichteten Saal, dessen Richterempore mit Mahagoni verarbeitet wurde, wird für den Angeklagten eigens ein roter Eisenkäfig aufgestellt. Zusätzlich werden Beamte vor dem Käfig postiert.
Im Gerichtssaal reiben sich Onoprienko und die Zuhörer die Hände: Die Heizung ist ausgefallen und im Saal herrschen Minusgrade. Plötzliche Ruhe kehrt ein, als das hohe Gericht den Sitzungssaal betritt. Vier Männer und eine Frau nehmen unter der Flagge der Ukraine Platz. Sie haben nun Recht zu sprechen über einen Serienmörder, wie es in diesem Land so schnell keinen mehr gibt.
Kalt, emotionslos, mit starrem Blick – so verfolgt der Angeklagte das Geschehen im Saal. Mit gesenktem Kopf erhebt sich Onoprienko, als ob er sie nicht sehen wollte, die Menschen, die über ihn zu richten haben.
Er setzt sich und wartet mit leerem Blick darauf, dass die Anklageschrift verlesen wird. Er kennt sie, man hat sie ihn vor Prozessbeginn lesen lassen.
Mit finsterer Miene folgt er den Ausführungen des Staatsanwaltes. Immer neue Gräueltaten werden bekannt. Er nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, als wolle er all die Gräueltaten, die er begangen hat, nicht hören. All die grauenhaften Details, wie er seine Opfer schlachtete, selbst Kinder mit der Axt zerstückelte.
Onoprienko wirkt gefasst. Der nur 1,60 m große Serienkiller antwortet auf alle Fragen des Gerichtes ruhig, ja sachlich und gelassen. Als ihn der Vorsitzende Richter Dmitrij Lipskij befragt: »Tun Ihnen die Opfer heute Leid?«, antwortet er mit einem kräftigen und resolutem Ton: »Nein. Ich war der Jäger, sie meine Beute. Wenn ihr mich nicht gefasst hättet, wären es vielleicht mehr als 300 Tote geworden. Es musste ganz einfach sein. Zuerst habe ich einen Mann und eine Frau vernichtet.
Dann kamen zwei Polen an die Reihe. Etwas später erschoss ich gleich fünf Menschen auf einmal. Irgendeine Kraft hat mich dazu getrieben.«
Ein Raunen geht durch den Saal. Unter den Zuhörern befinden sich viele Angehörigen der Getöteten. Kalter Schauer läuft ihnen den Rücken hinunter, als Onoprienko weiterspricht:
»Ich habe getötet wie ein Roboter. Solange man die Kraft, die mich zum Töten getrieben hat, nicht findet, kann ich auch nicht verurteilt werden. Ich war eine Geisel dieser Macht. Ich war ihr völlig ausgeliefert. Sie müssen mich als ein Naturphänomen studieren, Herr Richter.«
Dieser Vorschlag
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