Der Todesengel von Florenz
ändern können. Es war noch früher Vormittag, und trotzdem stieß man schon wieder überall in der Stadt auf große stinkende Pfützen. Was auch nicht anders zu erwarten war, denn noch immer kippten die allermeisten Bürger in den dicht bebauten Stadtteilen bei Tagesanbruch den Inhalt ihrer Nachttöpfe rücksichtslos vor das Haus. Und nicht jeder machte sich die Mühe, darauf zu achten, dass der gelbbraune Sturzbach wenigstens über einer Abflussrinne niederging. Wer in den frühen Morgenstunden unter einem der breiten, bogenförmigen Übergänge hindurchging, die in vielen Gassen auf der Höhe des ersten, überkragenden Obergeschosses einander gegenüberliegende Häuser miteinander verbanden, der musste gut aufpassen, dass er nicht von einem solchen üblen Morgenguss erwischt wurde. Denn in den Boden dieser Bogengänge war in der Mitte – und damit auch mitten über der Gasse – genau zu diesem Zweck ein Loch eingelassen.
Aber dabei blieb es nicht. Im Laufe des Tages gesellten sich noch der Urin und die Fäkalien der streunenden Hunde und Katzen hinzu, die Ausscheidungen des Federviehs, der Ochsen, Maultiere und Pferde sowie die Abfälle aus den offenen Schlächtereien, das verdorbene Gemüse von den Märkten und anderer Unrat. Um die Stadt von all dem Dreck dauerhaft reinzuwaschen, hätte es dreier schwerer Regenschauer bedurft – und zwar tagtäglich.
Nichtsdestotrotz liebte Pater Angelico seine Stadt. Florenz war die bedeutendste Handelsmetropole der Welt, zumindest was die Herstellung, die Veredlung und den Verkauf von Stoffen sowie das Bankwesen betraf. »Der Florentiner ist ein Weltbürger, der den Wind der Weite atmet!«, hieß es nicht von ungefähr im Volksmund. Und das war, was die Florentiner Kaufmannschaft und die Bankherren betraf, noch nicht einmal übertrieben, denn deren Geschäftsbeziehungen umfassten buchstäblich die ganze Welt.
Natürlich wusste er auch, dass Florenz im Vergleich zu vielen anderen Städten, die ebenfalls sechzigtausend Einwohner und mehr hatten, dank des Arno eher weniger von Dreck und Gestank gezeichnet war und wahrlich allen Grund hatte, sich seiner öffentlichen Bauten, der prachtvollen privaten Palazzi, majestätischen Kirchen, zahlreichen Klosteranlagen und nicht zuletzt seiner trutzigen Stadtummauerung zu rühmen.
Dennoch erschien ihm sein stolzes Florenz an diesem Tag wie ein riesiger Kadaver, der zwar noch in prunkvollen Gewändern steckte, dessen Verwesungsprozess jedoch schon begonnen hatte und sich mit dem entsprechenden Gestank bemerkbar machte. Und dass er so empfand, hatte nicht nur mit dem abscheulichen Mord an Pater Nicodemo und der bösartigen postmortalen Verleumdung zu tun.
Das rätselhafte Verbrechen hatte die Niedergeschlagenheit, die ihn schon auf dem nächtlichen Heimweg ins Kloster ergriffen hatte, nur verstärkt und ihn in noch tiefere, dunklere Seelengründe gestürzt. Seelengründe von einer beklemmenden Schwärze, in denen er sich von seinen Zweifeln, dem Wissen um seine Unzulänglichkeiten und inneren Dämonen sowie von der brennenden Scham ob seiner Verfehlungen in Gegenwart seines Novizen wie von schweren Mühlsteinen zerrieben fühlte.
Warum nur konnte er nicht so sein wie Bruder Ormanno, aus dessen Mund er noch nie ein lautes, geschweige denn böses Wort gehört hatte und der die Anweisung eines jeden Oberen auf der Stelle und mit einer vorbehaltlosen Bereitwilligkeit befolgte, die der Selbstaufgabe eines Heiligen gleichkam? Lag es daran, dass der sanftmütige Portarius kaum des Lesens und Schreibens mächtig war und sich nicht zuletzt deshalb einen kritiklosen, kindlichen Glauben und Gehorsam bewahrt hatte?
Wie immer die Antwort lautete, er wünschte, er wüsste sie – und hätte dann auch die Willensstärke, sie widerspruchslos zu befolgen.
Kaum war ihm das alles durch den Kopf gegangen, da schämte er sich auch schon dafür, dass er selbst jetzt, nachdem er eben noch an der geschändeten Leiche seines Mitbruders gestanden und ihm die Lider geschlossen hatte, wieder um sich selbst kreiste.
Aber war es nicht wiederum verständlich, dass er sich abzulenken und die grässlichen Bilder loszuwerden versuchte, die eben in der Brandruine auf ihn eingestürmt waren?
Die Seele seines Mitbruders lag nun in Gottes Hand, und er hegte keinerlei Zweifel daran, dass Gott ihm die Barmherzigkeit schenkte, die ein so frommer und gottesfürchtiger Mann wie er verdient hatte. Was dagegen die Aussichten betraf, dass einst auch seine Seele …
Er zog
Weitere Kostenlose Bücher