Der Todesengel von Florenz
folgt: Es war, o Herr, einmal ein Vater, der mit drei Söhnen gesegnet war und einen Ring besaß, geschmückt mit einem überaus edlen Stein. Jeder Sohn bedrängte den Vater, ihm diesen kostbaren Ring zu vermachen. Der Mann aber liebte alle Söhne gleichermaßen und wollte keinen von ihnen enttäuschen. Deshalb ließ er einen tüchtigen Goldschmied kommen und trug ihm auf: ›Meister, fertigt mir zwei Ringe, die diesem hier gleichen, und verseht jeden mit einem Stein, der dem in meinem Ring gleicht.‹ Der Meister führte den Auftrag so gewissenhaft und kunstfertig aus, dass niemand außer dem Vater den echten Ring von den beiden nachgemachten unterscheiden konnte. Der Mann ließ seine Söhne einzeln zu sich kommen und gab jedem einen Ring, woraufhin jeder von ihnen glaubte, den echten Ring erhalten zu haben. – Das, hochwürdiger Sultan, ist die Geschichte der drei Religionen. Nur der Vater, der sie gab, weiß, welches die rechte ist. Und seine Söhne, also wir Menschen, glauben jeder, die echte zu besitzen. – Als der Sultan diese Geschichte gehört hatte, kam er ins Grübeln und ließ den jüdischen Kaufmann unbehelligt ziehen.«
Bruder Bartolo wiegte den Kopf. »Nun ja, darüber kann man sich in der Tat Gedanken machen«, räumte er ein. »Aber letztlich ist es doch nur ein Gleichnis, Meister, wenn auch kein schlechtes.«
»Gewiss. Vor allem aber ist es eine Geschichte ganz nach dem Herzen der Florentiner, die sich im Zuge seit Jahrhunderten andauernder geschäftlicher und kultureller Beziehungen zur Welt der Sarazenen und zum einstigen Byzanz doch einen freien Blick und vor allem den Geist religiöser Duldsamkeit erworben haben«, hielt der Malermönch ihm entgegen, um dann sarkastisch hinzuzufügen: »Nicht von ungefähr heißt es in unserer Stadt, dass einem Florentiner in Seenot ein Kürbis als Halt lieber ist als das Johannesevangelium. Außerdem verdirbt zu viel Religion die Welt.«
Um ein Haar wäre Bruder Bartolo der gottlob leere Becher aus der Hand gefallen. Mit offenem Mund starrte er seinen Meister an, als könne er nicht recht glauben, was er soeben gehört hatte. Aber für eine Erwiderung wäre auch gar keine Zeit gewesen, denn im selben Moment traf Scalvettis Bote aus dem Bargello im Giardino ein.
17
I n der Kapelle von San Marco brannten außer dem ewigen Licht am Altar nur noch die beiden großen Kerzen, die zu Häupten von Pater Nicodemos Leichnam standen. Sie warfen ihren warmen Schein auf den Toten und Pater Angelico, der neben ihm auf dem kalten Steinboden kniete.
Nicht eine Minute sollte ein sterbender oder toter Klosterbruder in Dunkelheit oder allein verbringen. Dass bei ihm Totenwache gehalten wurde, war der letzte brüderliche Liebesdienst, der jedem Mönch zuteilwurde. So schrieb es die Ordensregel vor. Auch dass die Beerdigung erst drei Tage nach dem Tod zu erfolgen hatte.
So lange nämlich, an dieser alten Überzeugung hielten die Mönche fest, hielt die Seele des Verstorbenen sich noch in der Nähe seines Körpers auf und rang mit den Mächten der Finsternis. Während dieser kritischen Zeit bedurfte es der unablässigen Gebete und Fürbitten sowie des Lichts geweihter Kerzen, damit die Seele sich aus der Umklammerung der Dunkelheit befreien konnte und ihren Weg ins himmlische Licht fand.
Pater Nicodemos sterbliche Hülle war in seinem Habit und mit über den Kopf gezogener Kapuze auf ein schlichtes Holzbrett gebettet. Dieses ruhte seinerseits auf einer leicht schräg gestellten, hölzernen Bahre, so dass der Kopf des Toten ein wenig höher lag als seine Füße. Mit ihrem Lattenrost ähnelte die Bahre einer Leiter, nur dass sie an den seitlichen Enden vier Traghölzer besaß. Die Hände des Toten lagen wie zum Gebet gefaltet auf der Brust und hielten seinen Rosenkranz.
Pater Angelico glaubte, dass die Seele seines ermordeten Klosterbruders weder seine Gebetsströme und Fürbitten noch die irgendeines anderen nötig hatte, um der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Wenn es einen barmherzigen und gerechten Gott gab, woran er angesichts des grenzenlosen menschlichen Leids und der nicht endenden Gewalt in der Welt zuweilen qualvoll zweifelte, dann war ihm die Aufnahme in den Himmel gewiss.
Dennoch betete er für ihn, weil es das Einzige war, was er für den Klosterbruder, der sein Leben wahrhaftig in Armut, Keuschheit und Gehorsam verbracht hatte, noch tun konnte. Wenigstens hatten Scalvetti und er dafür sorgen können, dass niemand in San Marco den Toten so verstümmelt
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