Der Todesengel von Florenz
nach San Marco zurückkehren? Pater Angelico wollte das einfach nicht glauben. Hatte er die Satzfetzen, die zu ihm auf den Gang gedrungen waren, richtig verstanden? Hatte Pico della Mirandola tatsächlich Savonarolas Loblied gesungen und dem Prior versichert, der Mann habe sich wundersam von einem grobschlächtigen Priester mit bäuerlicher Aussprache zu einem geradezu begnadeten Prediger mit geschmeidiger Zunge entwickelt?
Pater Angelico hoffte aus tiefstem Herzen, dass er da etwas falsch gedeutet hatte. Es mochte ja sein, dass Girolamo Savonarola an seiner Sprache und dem Aufbau seiner Predigten gearbeitet hatte und nun, was den Vortrag betraf, mit den Großen seiner Zeit mithalten konnte. Was er dagegen ganz und gar nicht glaubte, war, dass der Mann sich in seinem Wesen verändert hatte und andere theologische Ansichten vertrat als zuvor. Girolamo Savonarola war von einem fanatischen Eifer, der ihn schon damals zutiefst erschreckt hatte. Daran würde auch eine neue, gefälligere Verpackung nichts ändern.
Gebe Gott, dass Lorenzo dem Ansinnen einen Riegel vorschiebt, falls Mirandola bei Vincenzo Bandelli damit auf offene Ohren stößt, betete Pater Angelico. Denn ohne die Zustimmung des Medici hatte Savonarola keine Chance, jemals wieder einen Fuß nach Florenz und ins Kloster San Marco zu setzen. Er hoffte inständig, dass die Freundschaft zwischen dem Fürsten der Stadt und dem gelehrten Grafen in diesem Fall an ihre Grenzen stieß!
Der Konvent näherte sich gerade dem Abschlusshymnus, als Pater Angelico in der Tiefe des leeren Mittelschiffs eine Bewegung wahrnahm. Gewöhnlich erschienen wegen der späten Abendstunde keine Gläubigen aus dem Volk zur Komplet. Diesmal jedoch hatte sich jemand in der Kirche eingefunden. Eine schattenhafte Gestalt schritt den Mittelgang herauf. Augenblicke später löste sie sich aus der Dunkelheit und trat in den schwachen Kerzenschein, der aus dem Altarraum noch einige Schritte weit über den Lettner fiel.
Unmerklich fuhr Pater Angelico zusammen. Das war Scalvettis Caporale Gualberti! Und der Scherge suchte seinen Blick! Ihn beschlich eine dunkle Ahnung. Doch dann sagte er sich, dass der Mann vielleicht eine gute Nachricht zu übermitteln hatte.
Gualberti gab ihm ein unmissverständliches Zeichen, dass er ihn gleich vor der Kirche erwarte. Als Pater Angelico die stumme Aufforderung mit einem knappen Nicken beantwortete, beugte der Caporale kurz die Knie und bekreuzigte sich. Dann wandte er sich um und tauchte wieder in die Finsternis des Kirchenschiffes ein.
Wenige Minuten später eilte Pater Angelico ihm nach, dicht gefolgt von Bruder Bartolo, den er aufgefordert hatte, ihn zu begleiten.
Der Caporale wartete vor dem Portal. »Commissario Scalvetti hat mich geschickt, Euch unverzüglich zu holen!«
»Gibt es einen Hinweis darauf, wer Pater Nicodemo getötet hat?«, fragte der Malermönch hoffnungsvoll.
»Nein, ganz im Gegenteil. Der Tarotkartenmörder hat erneut zugeschlagen«, teilte Gualberti ihm grimmig mit. »Wieder in der Via Sant’Anna!«
23
D ie Via Sant’Anna war so hell erleuchtet wie wohl noch nie zuvor. Aus unzähligen offenen Fenstern ringsumher fiel das Licht von Kerzen und Öllampen in die Nacht. Zudem loderten vor dem Laden des Fallimagno Calvano zwei Pechfackeln, die Scalvettis Schergen auf seinen Befehl hin entzündet hatten.
»Ich glaube nicht, dass der Commissario auch nach mir geschickt hat, deshalb sollte ich wohl besser hier draußen warten, Meister«, sagte Bruder Bartolo kläglich, und es schwang unverhohlen die Bitte mit, ihm den Anblick eines zweiten grausig zugerichteten Leichnams zu ersparen. Zwar hatte der Caporale kein Wort über das Opfer und die näheren Umstände der Tat verloren, aber dass sie keineswegs einen friedlich Entschlafenen zu sehen bekommen würden, lag auf der Hand.
»Von wegen! Du kommst gefälligst mit«, machte Pater Angelico die Hoffnung seines Novizen zunichte. »Es schadet dir gar nichts, einen Geschmack von der Welt jenseits unseres wohlbehüteten Klosterlebens zu erhalten, und dieser Geschmack ist nun mal häufig bitter wie Galle.«
Bruder Bartolo seufzte schwer. »Ihr seid ein harter Meister«, klagte er leise.
»Du hattest die Wahl. Es stand dir frei, einem anderen zugewiesen zu werden«, erinnerte ihn Pater Angelico. »Jetzt musst du mit deiner Entscheidung leben. Und es soll dir eine Lehre sein.«
»Inwiefern eine Lehre, Meister?«
»Insofern, als die Geschichte im Kleinen wie im Großen immer wieder
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