Der Todesflug der Cargo 03
leer.
Dann ergriff ihn Panik. Wo war er? Warum war er noch hier unten? Alle Kraft schien aus seinem unterkühlten Körper gewichen. Es war ein Gefühl, als ob er sich in zähflüssigem Sirup bewegte. Was war schon dabei, wenn er dem Fingerzeig des Schicksals folgte und sich für immer zu den fünf Skeletten ins nasse Grab der Cargo 03 gesellte? Mühsam, wie durch einen Nebelvorhang hindurch, versuchte er seine Orientierung wiederzuerlangen. Richtig, dort, wo die silbrige Kette der ausgeatmeten Luftblasen hinwies, mußte oben sein.
Erleichtert wandte sich Pitt von dem fünften Skelett, das er entdeckt hatte, ab und schwamm durch die klaffende Öffnung des Wracks ins Freie. In wenigen Sekunden stieg er nach oben. Als er nur noch drei Meter von der Wasseroberfläche entfernt war, konnte er den Kiel des Bootes erkennen, das sanft im Wasser schwankte und das Licht der seitlich einfallenden Sonnenstrahlen wie ein Traumobjekt in einem surrealistischen Film reflektierte. Neben dem Rumpf des Bootes war Giordinos Kopf zu erkennen, der durch die Launen der Spiegelung vom Körper getrennt schien und ähnlich dem guillotinierten Schädel eines Geköpften ins Wasser stierte.
Mehr durch den Auftrieb als durch eigene Kraft kam Pitt an die Oberfläche. Er hatte keine Energie mehr, um sich an den Rudern festzuklammern, die ihm entgegengestreckt wurden. Mit vereinten Anstrengungen hoben ihn Giordino und Steiger ins Boot. Pitt fühlte sich hilflos wie ein kleines Kind, das auf die Wickelkommode gehoben wird.
»Kommen Sie, Steiger! Wir müssen ihm unbedingt sofort den Tauchanzug ausziehen«, rief Giordino. »Um Gottes Willen, er ist ja ganz blau vor Kälte!«
»Er hat noch Glück gehabt«, murmelte Giordino. »Wenn er noch fünf Minuten länger untengeblieben wäre, hätten wir ihn nur noch als Leiche wiedergesehen.«
»Tritt der Tod in einem solchen Fall eigentlich wegen Sauerstoffmangel ein?« fragte Steiger, während er Pitts Körper von dem zäh am Körper haftenden Tauchanzug befreite.
»Durch Unterkühlung«, antwortete Giordino. »Ich habe mehrere Taucher erlebt, die an Unterkühlung gestorben sind.«
Pitt stöhnte und schlug die Augen auf. Er zitterte vor Kälte. »Ich… wünsche keine… Autopsie«, stammelte er, in einem heroischen Versuch, noch nahe der Bewußtlosigkeit Humor zu beweisen. »Ich bin… noch nicht tot, und… ich habe das Recht, über… meinen eigenen Körper zu verfügen.«
Dann war der Neopren-Anzug herunter. Sie massierten die Haut des Tauchers, bis sichtbar wurde, dass die Durchblutung wieder funktionierte. Dann hüllten sie ihn in dicke Wolldecken. Pitt spürte, wie die Lebensgeister langsam zurückkamen. Er genoß die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht und trank hoffnungsvoll einen großen Becher Kaffee aus der Thermosflasche, wobei er sich darüber klar war, dass die belebende Wirkung des heißen Getränks mehr psychologisch als körperlich bedingt war.
»Du Dummkopf!« schimpfte Giordino und war bemüht, seine
Stimme ärgerlich klingen zu lassen, damit sie nichts von der Besorgnis, die er fühlte, verriet. »Du tauchst wie jemand, der zum erstenmal nach unten geht. Du bist viel zu lange unten geblieben! Du wußtest doch, dass das Wasser auf dem Grunde des Sees nahe dem Gefrierpunkt ist. Hast du wirklich geglaubt, du kannst da unten in aller Ruhe Spazierengehen?« Pitt antwortete mit einer Grimasse. »Was haben Sie im Wrack gefunden?« fragte Steiger besorgt.
Pitt setzte sich auf und schüttelte den Kopf, so als ob er die restlichen Nebelschwaden, die seinen Geist beeinträchtigten, verscheuchen wolle.
»Ich glaube, ich habe eine Plastikmappe von unten raufgebracht«, sagte er erschöpft. »Wo ist sie?«
»Hier!« sagte Giordino und schwenkte die nasse Plastikmappe vor Pitts Augen hin und her. »Als du raufkamst, hattest du die Mappe so fest umklammert, als ob du sie nie wieder loslassen wolltest.«
»Hatte ich nicht auch eine kleine Metallplakette bei mir?«
»Hatten Sie«, bestätigte Steiger. »Hier ist sie. Sie fiel aus demÄrmel des Tauchanzugs heraus, als wir Sie auszogen.«
Pitt lehnte sich an die Wandung des Boots und schlürfte an seinem dampfenden Kaffee. »Der Frachtraum der Maschine ist vollgepackt mit großen Kanistern. Scheinen aus rostfreiem Stahl zu bestehen, sonst wären sie nicht so gut erhalten. Keine Ahnung, was drin ist. Die Kanister sind nicht beschriftet.«
»Welche Form haben sie?« fragte Giordino. »Sie sind zylindrisch.«
Steiger dachte nach.
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