Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
von mir wollte.
Ich rannte los.«
Cabrera reibt sich den Unterarm. Ich sehe ihn als kleinen Jungen, doch es vermischt sich mit der Gegenwart. Der Angst, der Unentschlossenheit und der Freude, aus der Hölle entkommen zu sein. Den Schuldgefühlen, genommen zu haben, was der Junge ihm dargeboten hatte, und ihn allein zurückzulassen.
»Sie müssen nicht wissen, wie es danach gewesen ist, nicht in allen Einzelheiten. Jedenfalls, ich entkam und kehrte zu meiner Familie zurück. Ich lebte einige Jahre als stiller, bekümmerter knabe und später als bekümmerter Mann. Ich war kein Heiliger, ich war sehr oft ein Sünder, doch ich lebte, und das ist das Wichtigste. Ich überlebte. Ich beging nicht Selbstmord, hatte meine unsterbliche Seele nicht der Verdammnis überantwortet. Verstehen Sie? Der Junge hat mich vor dem allerschlimmsten Schicksal bewahrt. Dank ihm steht der Himmel mir nach meinem Tod offen.«
Ich teile Cabreras Glauben nicht, doch ich kann seine Stärke spüren, die Kraft, die er aus ihm zieht, und das rührt mich.
»Ich ging nach Amerika«, fährt er fort. »Ich glaubte an Gott, doch ich war voller Kummer, ständig voller Kummer. Ich schäme mich zu sagen, dass ich manchmal Drogen nahm. Dass ich zu Prostituierten ging. Ich infizierte mich mit dem Virus.« Er schüttelt den Kopf. »Wieder Verzweiflung. Wieder der Gedanke, dass der Tod vielleicht besser ist als das Leben. Damals wurde mir klar, dass das Virus eine Botschaft von Gott war. Er hatte mir einmal einen Engel geschickt, und der hat mich gerettet. Ich hätte dankbar sein sollen. Stattdessen hatte ich meine Jahre damit verschwendet, über meinen eigenen Sorgen und meiner Wut zu brüten.
Ich hörte auf Gottes Warnung. Ich änderte mein Leben, wurde zölibatär. Ich kam Gott näher. Und eines Tages, vor elf Jahren, kehrte mein Engel zurück.«
Cabreras Augen sind mit einem Mal voll Trauer.
»Er war noch immer ein Engel, doch er war kein Engel des Lichts mehr. Er war ein dunkler Engel geworden. Ein Todesengel, der einzig für die Rache existiert.«
Die Tätowierung , geht es mir durch den Kopf.
»Er erzählte mir, dass er Furchtbares durchgemacht hatte, weil er mir zur Flucht verholfen hatte. Ich kann Ihnen nicht wiedergeben, was er mir erzählt hat. Es ist zu schrecklich, zu böse. Er erzählte mir, dass sogar er zu manchen Zeiten an Gottes Liebe zweifelte. Doch dann erinnerte er sich an mich, und er betete zu Gott und war wieder sicher. Gott prüfte ihn. Gott würde ihn von diesem Ort wegführen.« Cabrera verzieht das Gesicht. »Eines Tages führte Gott ihn weg. Eines Tages wurden all die Gebete, der Glaube, sein Opfer für mich, all diese Dinge von Gott belohnt. Er und die anderen Kinder, inzwischen in Amerika, wurden von der Polizei gerettet, vom FBI.
Er hat es als einen wunderbaren Augenblick beschrieben. Es war, als hätte Gott ihn geküsst. Sein Glaube und sein Leiden waren belohnt worden.«
Cabrera verstummt. Er schweigt für lange Zeit. In mir steigt ein ungutes Gefühl auf. Eine innere Stimme verrät mir, was als Nächstes kommt.
»Eines Nachts, so erzählte er, hätte Gott sie geholt und in die Hölle zurückgebracht. Männer kamen, während sie schliefen, und ermordeten die Polizisten, die sie beschützten. Sie nahmen ihn und die anderen Kinder mit und führten sie zurück in die Sklaverei. Es war furchtbar«, flüstert Cabrera. »können Sie sich das vorstellen? In Sicherheit zu sein und dann wieder geraubt zu werden? Erneut alle Hoffnung zu verlieren? Für ihn war es schlimmer als für alle anderen. Sie wussten, dass er geholfen hatte, dass er der Polizei den Namen eines seiner Schergen genannt hatte. Sie brachten ihn nicht um, doch sie bestraften ihn … auf eine Weise, die seine frühere Existenz in der Hölle wie den Himmel erscheinen ließ.«
Ich habe es gewusst. Irgendetwas in mir hat es gewusst, und jetzt habe ich die Bestätigung.
Ich trete neben Alan. »Der Name des Jungen war Juan, stimmt das?«, frage ich Cabrera.
Er nickt. »Ja. Er war ein Engel mit Namen Juan.«
Ich weiß nicht, ob sein Bild von Juan als einem jungen Heiligen der Wahrheit entspricht oder ob es die idealisierten Erinnerungen eines verängstigten, gequälten und missbrauchten Kindes sind, das einen guten Freund fand, als es ihn am dringendsten brauchte. Doch ich weiß, dass ich Geschichten wie diese schon häufiger gehört habe. Es sind Geschichten, bei denen niemand gewinnt, nicht einmal wir.
Killer sind Killer, und was sie tun, ist unverzeihlich,
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