Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
mentale Krankheitsgeschichten aufwies.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie hat einfach zu genau hingeschaut, ist zu weit aus sich herausgegangen und hat sich dabei verirrt. Wie ein Boot auf dem Ozean, wenn das Ufer nicht mehr in Sichtist. Ich glaube, diese Frau fand sich in dem Boot wieder, wie sie hilflos dahintrieb, und wusste keinen Weg mehr zurück. Sie hatte sich zu weit vorgewagt.« Ich beugte mich auf dem Podium vor. »Aber genau das tun mein Team und ich. Wir wagen uns bewusst weit vor. Wir sehen ganz genau hin und hoffen, dass wir stark genug sind, damit fertig zu werden, ohne dass wir hilflos in einem Boot enden, das davongetrieben wird.«
Der Administrator war nicht besonders glücklich über meinen Vortrag gewesen. Es war mir egal. Ich hatte die Wahrheit gesagt.
Der Selbstmord der jungen Agentin war für mich kein Rätsel. Nicht das Hinsehen war das Problem. Das Problem war, nicht mehr hinzusehen. Man muss imstande sein, nach Hause zu gehen und die Bilder abzuschalten, die einem wie ein Dieb in der Nacht auf leisen Sohlen durch den Verstand schleichen wollen. Die junge Agentin hatte das nicht gekonnt, und so hatte sie sich eine Kugel in den Kopf geschossen, damit die Bilder verschwanden. Ich konnte das gut nachvollziehen.
Genau das hatte ich den FBI-Anwärtern damals sagen wollen. Dass es kein Spaß ist. Es ist kein Nervenkitzel, keine Herausforderung, an der man sich messen kann, keine Grusel-Achterbahn. Es ist eine Arbeit, die getan werden muss.
Meine Begabung – oder mein Fluch – ist es, die Begierden von Serienmördern zu verstehen. Zu wissen, warum sie so fühlen und denken. Ein klein wenig selbst zu fühlen, was sie empfinden, oder auch mehr. Es ist ein Vorgang, der in meinem Innern abläuft und der zum Teil auf Ausbildung und Beobachtung, zum größten Teil aber auf der Bereitwilligkeit beruht, mich auf diese Menschen einzulassen. Sie singen vor sich hin, ein Lied, das nur sie allein hören, und man muss aufmerksam lauschen, will man Melodie und Takt mitbekommen. Die Melodie und der Takt sind wichtig. Sie bestimmen den Tanz.
Das Wichtigste in meinem Job ist ein höchst unnatürlicher Akt: Ich wende mich bei solchen Tätern nicht ab, sondern beugemich im Gegenteil vor, um genauer hinzuschauen. Ich atmete tief die Luft durch die Nase, um ihre Witterung aufzunehmen. Ich berühre sie mit der Zungenspitze, um ihren Geschmack zu erkennen. Es hat mir geholfen, eine Reihe dieser Bestien zu fangen. Es hat mir auch Albträume beschert und Augenblicke, in denen ich mich gefragt habe, ob es auch bei mir eine Perversität ist, die mich vorantreibt, und ob ich zu viel verstanden habe.
»Barry kommt her«, sage ich zu Alan. »Es ist sein Fall. Aber tun wir erst mal so, als wäre es unserer. Callie, ich möchte, dass du mit mir zusammen den Tatort begehst. Ich brauche dein forensisches Urteil. Alan, du hörst dich in der Gegend um. Finde heraus, was die Nachbarn wissen.«
»In Ordnung«, sagt er und zieht einen kleinen Notizblock aus der Innentasche seines Jacketts. »Ned und ich sind schon unterwegs.«
Alan nennt seinen Notizblock »Ned«. Sein Lehrer hat stets gesagt, der Notizblock wäre der beste Freund des Ermittlers, und ein Freund sollte einen Namen haben. Er hat von Alan verlangt, dass er sich einen Namen für seinen Notizblock ausdenkt, und so wurde Ned geboren. Der Lehrer lebt längst nicht mehr, doch der Ned blieb. Es ist eine Art Aberglaube, nehme ich an, Alans Version der Glückssocken eines Baseballspielers.
Callie schaut zu einem schwarzen Buick hinüber, der soeben in den abgesperrten Bereich rollt. »Ist das Barry?«, fragt sie.
Ich stehe auf und erkenne Barrys massiges, bebrilltes Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Erleichterung überkommt mich. Jetzt kann ich endlich anfangen, etwas zu tun.
»Ich hätte nicht übel Lust, Ihnen die Hölle heißzumachen, weil Sie mir ein Rendezvous verdorben haben«, sagt Barry, als wir uns einander nähern. »Aber Sie sehen aus, als hätten Sie selbst einen beschissenen Abend gehabt.«
Barry ist Anfang vierzig. Er ist massig, ohne fett zu sein, erist kahlköpfig, trägt eine Brille und hat ein eher hausbackenes Gesicht – jene Art von hausbacken, die im richtigen Licht süß wirkt. Trotz dieser Handicaps trifft er sich ständig mit hübschen jüngeren Frauen. Alan nennt es »das Barry-Phänomen«. Unerschütterliches Selbstvertrauen, ohne arrogant zu sein. Er ist humorvoll, intelligent und durch und durch aufrichtig. Alan meint,
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