Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
Alkohol und manchmal nach Schlimmerem. Er packte mich bei einem Familientreffen einmal so fest am Arm, dass ich hinterher einen blauen Fleck hatte, brachte seinen stinkenden Mund einen Zentimeter vor mein verängstigtes Gesicht (ich war damals erst acht) und sagte irgendetwas Undeutliches, Widerliches und Abscheuliches, das ich bis heute nicht ganz entziffert habe.
Die Dinge, die wir als Kinder sehen, hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Wenn ich an einen Alkoholiker denke, sehe ich das Bild meines Onkels. Jedes Mal, wenn ichgetrunken habe und vor dem »klein wenig zu viel« stand, tauchte Onkel Joeys unrasiertes, gerötetes, rheumatisches Gesicht vor meinem geistigen Auge auf. Ich erinnere mich an den Gestank von Whiskey und von faulenden Zähnen und den verwegenen Blick in seinen Augen. Und das brachte mich jedes Mal zur Besinnung und hinderte mich daran, auch nur einen einzigen Schluck mehr zu trinken.
Nicht lange nach dem Tod meiner Familie fand ich mich in der Spirituosenabteilung des Supermarkts wieder. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie etwas anderes als eine Flasche Wein gekauft hatte, ganz sicher nicht in einem Supermarkt und definitiv nicht am helllichten Tag. Dann fiel mein Blick auf den Tequila, und das Lied kam mir in den Sinn.
Scheiß drauf , dachte ich bei mir.
Ich packte die Flasche in den Wagen, zahlte dafür, ohne der kassiererin in die Augen zu schauen, und eilte nach Hause.
Dort angekommen verbrachte ich vielleicht zehn Minuten mit dem Kinn in der Hand und starrte die Flasche an, während ich mich fragte, ob ich im Begriff stand, zu einem Klischee zu werden. Ob ich so etwas würde wie Onkel Joey, und ob der Apfel vielleicht nicht weit vom Stamm gefallen war.
Nein , überlegte ich. Niemand bemitleidet Onkel Joey. Mit dir aber werden alle Mitleid haben.
Der Tequila ging runter wie Öl. Es tat gut. Es war ein gutes Gefühl.
Ich wurde nicht betrunken. Mir wurde nur leicht im Kopf. Und weiter habe ich es bisher noch nie getrieben.
Das Problem, wie ich es heute sehe, besteht darin, dass ich mit dieser Gewohnheit weitergemacht habe, selbst als der Schmerz über den Verlust meiner Familie nachzulassen begann. Heute hilft mir der Tequila über meine Angst, oder in Zeiten großen Drucks. Genau da liegt die Gefahr – nicht zu trinken, weil ich es möchte, sondern weil ich es brauche . Davon abgesehen weiß ich, dass es keine gesunde Angewohnheit ist.
»Auf die Rationalisierung!«, murmle ich und proste der Luft zu.
Ich kippe den Schnaps in einem einzigen Schluck hinunter, und es fühlt sich an, als hätte ich Abbeizer oder Feuer geschluckt, doch es ist ein gutes Gefühl, das den Druck hinter meinen Augen abbaut und mir beinahe augenblicklich Zufriedenheit schenkt. Und genau darum geht es mir. Zufriedenheit ist viel schwerer zu erreichen als Freude, das habe ich immer gedacht. Doch ein einzelnes Glas Tequila reicht mir, um genau das zu bewirken.
»Jose Cuervo, da do do do dah dah …«, singe ich mit flüsternder Stimme.
Ich überlege, ob ich ein zweites Glas trinken soll, und entscheide mich dagegen. Ich drehe den Verschluss auf die Flasche und stelle sie in den Schrank zurück. Ich spüle das Glas aus, achte sorgfältig darauf, jede Spur von Geruch zu beseitigen. Weitere winzige rote Warnlampen, ich weiß: Alleine trinken und die Spuren verbergen. Letzten Endes muss ich es akzeptieren, rationalisiert oder nicht; mein Trinken ist noch nicht außer Kontrolle, noch nicht, und ich hoffe inständig, dass ich es merke, bevor es jemals so weit kommt.
Ich denke ein paar Sekunden nach. Warum geht mir Sarahs Geschichte so sehr unter die Haut? Warum hatte ich das Bedürfnis aufzustehen und zu Mr. Cuervo in die Küche zu rennen? Es ist eine furchtbare Geschichte, doch es ist nicht die erste dieser Art, die ich höre. Verdammt, ich habe selbst eine furchtbare Geschichte erlebt! Warum trifft mich die hier so schwer?
Bonnie hat den Nagel längst auf den Kopf getroffen: Weil Sarah Bonnie ist, und Bonnie Sarah. Bonnie malt, Sarah schreibt, beide haben ihre Eltern verloren, beide sind in der Seele verletzt. Wenn Sarah untergeht, ist Bonnie dann ebenfalls zum Untergang verdammt? Die Angst ist mein größtes Problem dieser Tage.
Ich habe meine Ängste heruntergespielt, als ich mit Elaina über Bonnie gesprochen habe. Wenn die Angst kommt, ist es mehr als bloßes Unbehagen. Die Angst lässt mich nach Atem ringen. Sie bringt mich dazu, mich im Badezimmer einzuschließen und auf dem Boden zu sitzen, die Arme
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