Der Todesstoss
einen Bären vorbereitet war, hätte keine Möglichkeit
gehabt, sich zu verteidigen.
Sie bewegten sich auf die Felswand zu und näherten sich der
kleinen Herde, die träge im Sonnenlicht stand und an dem
saftigen Gras zupfte. Allerdings schlugen sie einen
Zickzackkurs ein, auf dem sie gut die fünffache Entfernung
zurücklegten. Thobias sah immer wieder zur Hütte hin, und so
unsinnig Andrej seine Vorsicht auch fand, so schien sie doch
anzustecken.
Auch Andrej verspürte eine immer stärker werdende Unruhe,
der er sich nur mit Mühe erwehren konnte.
»Hier irgendwo muss es gewesen sein.« Thobias machte eine
Kopfbewegung in Richtung der Felswand. »Ich selber habe die
Kadaver nicht gesehen, aber mein Vater hat mir die Stelle
beschrieben. Dort drüben, bei der Felsspalte.«
Andrej blickte konzentriert in die angegebene Richtung. Er
sah den Spalt auf Anhieb. Es war ein dreieckiger Einschnitt in
der Felswand, der möglicherweise tiefer in eine Höhle
hineinführte, vielleicht aber auch nur ein Schatten war.
Andrej verspürte ein eisiges Frösteln, als sie in den Schatten
des Bergmassives traten, und diese Kälte wurde nicht nur vom
fehlenden Sonnenlicht hervorgerufen. Irgendetwas
Unheimliches ging von dieser Felswand aus. Etwas war hier.
Er blieb stehen und sog prüfend die Luft ein. Da war ein ganz
leiser, aber unverkennbarer Geruch, eine Mischung aus Blutund Verwesungsgestank, gerade noch an der Grenze des
überhaupt Wahrnehmbaren.
»Was habt Ihr?« Thobias sah ihn fragend an. Offen-sichtlich
hatte er nichts bemerkt, was Andrej mit einem leisen Gefühl der
Erleichterung erfüllte.
Anscheinend erholten sich auch seine Sinne allmählich
wieder.
»Nichts«, antwortete er, ohne den Blick von der schmalen
Felsspalte zu nehmen. Es war nicht nur ein Schatten. Dahinter
musste eine Höhle liegen.
Der Verwesungsgeruch kam eindeutig von dort. »Seid
vorsichtig. Bleibt hinter mir.«
Andrej zog das Schwert aus dem Gürtel und legte die letzten
zwanzig Schritte zwar geduckt, aber in gerade Linie zurück,
ohne auf irgendeine Deckung zu achten. Dicht vor dem
Höhleneingang blieb er stehen, um mit geschlossenen Augen zu
lauschen.
Plötzlich stürzten die Sinneseindrücke wie eine Flut auf ihn
ein. Jetzt, wo er einmal begriffen hatte, dass seine Vampyrsinne
zurückgekehrt waren, schienen sie mit jedem Herzschlag
schärfer zu werden. Er konnte Thobias Atemzüge hinter sich
hören, das leise Knacken des Felsens, der sich vor ihnen
auftürmte und sich auf seine unendlich langsame Weise ebenso
bewegte wie ein lebendes Wesen, selbst das rülpsende
Wiederkäuen der Kühe dreißig Schritte entfernt und das
Geräusch des Windes, der sich hoch über ihnen an
Felsvorsprüngen und Graten brach. Der Verwesungsgestank
schien übermächtig zu werden. Aber es war nur der Geruch des
Todes, der aus der Höhle drang. Dort war nichts Lebendes.
Nichts, vor dem er Angst haben musste.
Er behielt das Schwert dennoch in der Hand, als er gebückt
und schräg gehend durch den schmalen Spalt im Fels trat.
Dahinter war es sehr dunkel.
Thobias hätte vermutlich gar nichts erkennen können. Andrejs
nun wieder geschärftem Blick offenbarten sich Felsformationen
in den unterschiedlichsten Grau-, Schwarz- und
Silberschattierungen. Er entdeckte harte, ungewöhnlich scharfe
Konturen. Das war eigenartig; eine selbst für ihn vollkommen
neue Art des Sehens.
Dennoch war es sein Geruchssinn, der ihn zum Ziel führte,
nicht seine Augen. Er konnte erkennen, dass die Höhle nicht
besonders groß war. Hinter dem Eingang erweiterte sie sich
zwar, verengte sich nach kaum zehn Schritten aber bereits
wieder zu einem Spalt, der kaum breit genug war, um eine
Hand hindurchzuschieben. Der Boden war mit Felstrümmern
und Schutt übersät, und von der Decke hingen scharfkantige
Zacken, unter denen er sich vorsichtig hindurchbücken musste;
steinerne Zähne, die nur darauf warteten, nach ihm zu
schnappen, »Bleibt draußen!«, rief er Thobias zu. »Hier drin ist
es gefährlich.«
Thobias folgte ihm dennoch. Andrej schwieg dazu. Sollte sich
dieser leichtsinnige Narr doch ruhig den Schädel einrennen,
wenn ihm danach war.
Offenbar gehörte Thobias zu denjenigen, die am besten aus
schmerzhafter Erfahrung lernten.
Andrej folgte dem süßlichen Verwesungsgeruch, der mit
jedem Moment stärker zu werden schien. Mittlerweile war er
tatsächlich intensiv genug, um eine leise Übelkeit in ihm
auszulösen. Aber zugleich empfand er ihn auch als fast
angenehm
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