Der Todesstoss
hatte
Recht, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun
sollte.
»Bringt mich zu dieser Weide«, sagte er schließlich.
»Welcher Weide?« Thobias blinzelte.
»Der, auf der die Kühe gerissen wurden«, antwortete Andrej.
»Vielleicht finden wir irgendwelche Spuren, die uns
weiterhelfen.«
»Haltet Ihr das für eine gute Idee?«, fragte Thobias. »Die
Leute sind ängstlich geworden. Sie werden die Herde
bewachen.«
»Wir können auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass
sich die Ungeheuer freiwillig zeigen«, versetzte Andrej. »Wer
weiß - vielleicht geben sie ja auf und kommen mit erhobenen
Armen aus dem Wald, um sich uns auszuliefern.«
Thobias funkelte ihn an, aber dann drehte er sich einfach um
und ging davon.
Andrej blickte ihm stirnrunzelnd nach. Seine bissige Antwort
tat ihm schon wieder Leid, aber er wurde einfach nicht schlau
aus dem jungen Geistlichen.
Thobias schien vertrauenswürdig. Aber eine leise, bohrende
Stimme in ihm warnte ihn beharrlich, nicht zu vertrauensselig
zu sein. Thobias hatte ihm zum Beispiel trotz seiner massiven
Forderung bisher nicht erlaubt, mit Abu Dun zu sprechen oder
ihn auch nur zu sehen. Und wenn er es recht bedachte, dann
hatte er ihm auch von den Ergebnissen seiner Forschungen so
gut wie nichts mitgeteilt - obwohl er sie doch angeblich seit
zwei Jahren betrieb.
Andrej riss sich aus seinen Gedanken und drehte sich
ebenfalls um, um Thobias nachzueilen, der schon auf dem Weg
zur anderen Seite des schmalen bewaldeten Streifens war, wo
sie ihre Pferde angebunden hatten.
Auf halbem Weg dorthin musste er einem dornigen Gebüsch
ausweichen.
Er tat es, schon um sich nicht die neuen Kleider zu zerreißen,
die Thobias ihm gegeben hatte, aber er streckte wie zufällig die
Hand aus und streifte einen der Äste. Die fast
fingernagellangen, messerscharfen Dornen ritzten seine Haut
tief genug, dass einige Blutstropfen über seinen Handrücken
liefen.
Andrej wischte sie weg und betrachtete nachdenklich die vier
tiefen Kratzer. Sie hörten auf zu bluten und begannen zu heilen,
aber viel langsamer, als sie es hätten tun sollen. Die Wunde
schmerzte auch viel mehr, als sie sollte. Sie heilte - aber er
verlangsamte seine Schritte, um nicht zu früh bei Thobias
anzukommen und ihn etwas sehen zu lassen, was nicht für seine
Augen bestimmt war. Er musste sehr langsam gehen.
Die Weide - auf dem Weg dorthin hatte er von Thobias
gelernt, dass man sie in diesem Teil des Landes Alm nannte die Alm also lag östlich des Dorfes und so weit oben in den
Bergen, dass Andrej sich vergeblich fragte, wie die
Trentklammer ihre Kühe eigentlich hier herauf bekamen. Der
Pfad, den sie ritten, schien allenfalls für Bergziegen bequem zu
sein; selbst sein Pferd kam ein paar Mal ins Stolpern, und auf
dem letzten Stück saßen sie ab und gingen zu Fuß. Am Zügel
führten sie die Tiere hinter sich her.
Die Bergwiese schmiegte sich an den letzten sanften
Ausläufer des Hanges, hinter dem das Bergmassiv jäh und fast
senkrecht in die Höhe zu steigen begann. Es war eine
zyklopische Wand, die geradewegs bis in den Himmel zu
reichen schien. Hier oben war es noch warm, doch es gab
bereits keine Bäume mehr, sodass sie die Pferde im Schutz der
letzten Felsen zurückgelassen hatten. Sie näherten sich der
kleinen Herde mit äußerster Vorsicht, wobei sie jede noch so
kärgliche Deckung ausnutzten.
Andrej fand ihr Gebaren merkwürdig. Schließlich pirschten
sie sich nicht an eine feindliche Festung voller falkenäugiger
Scharfschützen an, sondern an zwei Dutzend magerer Kühe, die
wahrscheinlich nicht einmal dann von ihnen Notiz genommen
hätten, wenn sie mit mehreren Fahnen und gellendem
Kriegsgeschrei aus dem Wald gestürmt wären. Aber Thobias
hatte darauf bestanden. Es gab eine kleine, roh aus
Baumstämmen gezimmerte und fensterlose Hütte am anderen
Ende der Alm, in der sich durchaus ein Wächter aufhalten
könnte.
Andrej hoffte inständig, dass dem nicht so war. Nicht nur,
weil er befürchtete entdeckt zu werden, sondern vor allem, weil
die Gefahr bestand, dass der Mann dem Raubtier begegnete, das
die Kühe gerissen hatte. Bei der bloßen Erinnerung an das
unheimliche Geschöpf lief ihm noch ein eisiger Schauer über
den Rücken. Er selbst, der - unter gewöhnlichen Umständen -
viel stärker als ein kräftiger Mann war, hatte es mit Mühe und
Not besiegt und diesen Sieg um ein Haar mit dem Leben
bezahlt. Ein ahnungsloser Bauer, der auf einen Wolf oder
allenfalls
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