Der Todesstoss
ihm selbst eigentlich
noch in ihm war.
Wie alle seiner Art kannte er die Gefahr, die der Wechsel mit
sich brachte. Der Angreifer war naturgemäß im Vorteil, wenn
sein Opfer geschwächt und verletzt war, und mit jedem Leben,
das ein Vampyr nahm, wuchs seine eigene Kraft, was
zwangsläufig dazu führte, dass er stärker wurde, je länger er
lebte, und unbezwingbarer, je mehr Leben er nahm. Und doch
… manchmal glaubte er die stummen Schreie all derer in sich zu
hören, deren Leben er geraubt hatte, das verzweifelte Flehen der
verlorenen Seelen, die Opfer der Bestie geworden waren, die
irgendwo tief in ihm schlummerte, und der er seine
Unsterblichkeit und seine Kraft verdankte, die er aber zugleich
fürchtete wie nichts anderes auf der Welt. Vielleicht war er
schon längst nicht mehr er selbst, sondern sah nur noch aus wie
der Mann, der vor zehn Jahren sein Heimatdorf verlassen hatte.
Das Geräusch von Schritten drang in seine trübsinnigen
Gedanken, ein trockener Ast zerbrach unter einem Fuß, und
plötzlich stand Bruder Thobias wie aus dem Boden gewachsen
vor ihm. Andrej erschrak, weil der junge Priester so plötzlich
vor ihm erschienen war. Seine Sinne hätten ihn warnen müssen.
Es war unmöglich, sich an ihn anzuschleichen!
Sein Erschrecken war offensichtlich auch Thobias nicht
verborgen geblieben, denn der Geistliche legte den Kopf schräg
und sah ihn stirnrunzelnd an. »Was habt Ihr, Andrej?«, fragte
er. »Ihr seid leichenblass.« Er versuchte zu lachen. Es misslang.
»Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen.«
Vielleicht habe ich das auch, dachte Andrej. Laut sagte er:
»Nichts. Ich war …
in Gedanken, das ist alles. Was habt Ihr herausgefunden?«
Andrej rief sich zur Ordnung. Es gab eine ganz natürliche
Erklärung. Er war noch nie im Leben so schwer verwundet
worden wie jetzt. Genau genommen wusste er nichts darüber,
wie es war, verletzt zu werden und sich nur allmählich wieder
zu erholen. Er nahm an, dass nicht nur sein Körper Zeit
brauchte, um seine gewohnte Leistungsfähigkeit
zurückzuerlangen.
»Birger und seine Schwester sind verschwunden«, sagte
Thobias. »Dazu weitere Männer aus dem Dorf. Niemand hat sie
gesehen, seit jener Nacht, in der Ihr …« Er zögerte unmerklich.
»In der das Kloster überfallen wurde.«
»Was habt Ihr erwartet?«, fragte Andrej. »Dass er
zurückkommt oder darauf wartet, dass wir ihn holen?« Er
drehte sich halb herum und warf einen langen, nachdenklichen
Blick ins Tal hinab. Trentklamm schien immer noch zu
schlafen, obwohl es auch dort unten bereits hell zu werden
begann. Andrej trat an Thobias vorbei einen halben Schritt aus
dem Wald heraus, wobei er gegen das unangenehme Gefühl
ankämpfen musste, schutzlos zu sein und vom Dorf aus gesehen
werden zu können. Auch das hatte sich verändert: Er begann,
ängstlich zu werden.
»Wo sind sie alle?«, fragte er. »Die Leute müssten doch
längst auf den Beinen sein.«
»In der Kirche«, antwortete Thobias. »Ich sagte Euch doch,
die Leute hier sind sehr gottesfürchtig.«
»Alle?«, fragte Andrej zweifelnd. »Oder ist heute Sonntag?«
»Ja«, antwortete Thobias - was wohl die Antwort auf beide
Fragen darstellen sollte. Kurz darauf jedoch schüttelte er den
Kopf und fuhr fort: »Aber das ist nicht der hauptsächliche
Grund. Es steht eine Beerdigung an.«
»Wer ist gestorben?«, fragte Andrej.
»Jemand, den Ihr nicht kennt«, antwortete Thobias
ausweichend. »Es spielt auch keine Rolle. Wichtiger ist, was ich
darüber hinaus in Erfahrung gebracht habe.« Er sah Andrej
herausfordernd an. Dann fuhr er fort: »Es sind wieder Tiere
gerissen worden.«
Nun wurde Andrej hellhörig. Er sagte nichts, aber das
Interesse in seinem Blick schien Thobias zufrieden zu stellen.
»Wie vor zwei Jahren«, fuhr er in deutlich verändertem Tonfall
fort. »Zwei Kühe von der östlichen Weide. Und einem anderen
Bauern sind drei Schafe gerissen worden. Außerdem hat der
Fuchs gleich einen ganzen Hühnerstall verwüstet.«
»Nur, dass es in dieser Gegend gar keine Füchse gibt«,
vermutete Andrej.
»Zumindest ist es etliche Jahre her, dass ein Fuchs gesehen
worden ist«, bestätigte Thobias. »Das alles gefällt mir nicht. Es
wird Benedikt und den Inquisitor in ihrer Meinung bestärken,
dass der Teufel hier sein Unwesen treibt. Das macht es nicht
gerade leichter für uns. Die Leute sind misstrauisch und trauen
jetzt erst recht keinem Fremden mehr.«
Andrej dachte eine Weile angestrengt nach. Thobias
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