Der Todesstoss
Offenbar war er nicht
einmal dazu gekommen, seine Waffe zu ziehen.
Andrej überwand das letzte halbe Dutzend Stufen mit einem
einzigen Satz. Die nach rechts führende Gittertür war aus den
Angeln gerissen. Er stürmte hindurch. Flackerndes rotes Licht
hüllte ihn ein wie der Schein der Hölle selbst, und er roch Blut
und Tod. Die Schreie waren verstummt. Andrej lief weiter und
stürmte um die Gangbiegung.
Unmittelbar vor ihm lag ein zweiter Toter, und ein dritter
Mann - noch am Leben, aber so schwer verletzt, dass er binnen
kurzer Zeit sterben würde - hockte vor der Wand und starrte aus
weit aufgerissenen Augen in seine Richtung, ohne ihn wirklich
zu sehen. Das Ungeheuer stand geduckt am Ende des Ganges
und zerfetzte mit gewaltigen Prankenhieben die Tür zu einer der
winzigen Kerkerzellen. Hinter dem auseinander splitternden
Holz kam eine schwarzhäutige Gestalt zum Vorschein, die
aufrecht an die Wand gekettet war. Lärm und Schreie hatten
Abu Dun aus seiner Lethargie gerissen. Er sah dem Monstrum
aus blutunterlaufenen Augen entgegen, aber Andrej bezweifelte,
dass er wirklich begriff, was er sah.
Ein letzter, fürchterlicher Prankenhieb schlug die Tür
vollends aus dem Rahmen, und die Bestie warf ihren
missgestalteten Schädel in den Nacken und stieß ein schauriges
Geheul aus.
»Nein!«, schrie Andrej. »Nein! Lass ihn in Ruhe, du
Ungeheuer!«
Die Kreatur fuhr herum und bleckte wütend die Zähne. Seine
schrecklichen, ungleichen Klauen öffneten sich, mörderische
Krallen reckten sich in Andrejs Richtung, und in den glühenden
Dämonenaugen loderte ein wilder Triumph auf.
Andrej hatte Angst. Nackte Panik wischte jeden Ansatz
vernünftigen Denkens beiseite. Er wusste, dass ihn ein
Schicksal tausendfach schlimmer als der Tod erwartete, wenn er
in den Griff dieser mörderischen Klauen geriet.
Und dennoch rannte er weiter. Etwas war stärker als seine
Angst. Vielleicht war es der Anblick Abu Duns, der ihn
weitertrieb. Andrej überwand die wenigen Schritte Entfernung
schreiend vor Angst und Zorn und schwang die
Damaszenerklinge mit beiden Armen. Aus dem lodernden
Triumph in den Augen des Werwolfs wurde ungläubige
Überraschung, dann Schrecken.
Keine dieser Empfindungen hinderten ihn jedoch daran, mit
unvorstellbarer Schnelligkeit zu reagieren. Andrejs Hieb hätte
ausgereicht, ihn auf der Stelle zu enthaupten. Aber der Werwolf
schien sich plötzlich in einen Schatten zu verwandeln, der nicht
mehr Substanz als flüchtiger Nebel hatte und dann einfach
verschwand.
Der Hieb ging ins Leere. Die Schwertklinge bohrte sich
knirschend zwei Finger tief in das steinharte Holz des
Türrahmens und blieb stecken, und Andrej wurde vom
Schwung seiner eigenen Bewegung nach vorne gerissen und
prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm schwarz
vor Augen wurde.
Stöhnend ließ er das Schwert los, drehte sich herum und
kämpfte mit aller Macht dagegen an, in die Knie zu sinken.
Wirbelnde schwarze und rote Schatten tanzten vor seinen
Augen. Einer dieser Schatten hatte Klauen und Zähne und
lodernde Dämonenaugen.
Andrejs Sinne klärten sich rasch, aber nicht rasch genug. Der
Schemen gerann vor seinen Augen zu einer verkrüppelten
Gestalt, und Andrej hob schützend die Arme, um das
Ungeheuer abzuwehren.
Als gäbe es seine Abwehr gar nicht, fegte der Werwolf seine
Arme beiseite, und eine unvorstellbar starke Pranke schloss sich
um Andrejs Hals, schnürte ihm die Luft ab und riss ihn
gleichzeitig in die Höhe. Andrej bäumte sich auf, als er den
Boden unter den Füßen verlor, und hämmerte verzweifelt mit
den Fäusten auf den Arm der Bestie ein. Zugleich trat er nach
ihr. Er traf, aber seine Hiebe und Tritte zeigten nicht die
geringste Wirkung. Der Werwolf drückte ihn langsam weiter an
der Wand nach oben, und Andrejs Bewegungen wurden bereits
schwächer. Wieder begannen rote Blitze vor seinen Augen zu
tanzen, aber diesmal war es die Atemnot, die seine Sinne
verwirrte.
Irgendetwas in seinem Hals war zerbrochen, zerquetscht unter
dem mörderischen Griff des Ungeheuers. Er würde sterben,
aber er würde nicht ersticken, das begriff er mit entsetzlicher
Klarheit. Das Ungeheuer hielt ihn mühelos mit nur einer Hand,
die andere hatte es erhoben und zu einer tödlichen Kralle
geformt, vier verkrüppelte Dolche, die sich in seine Augen und
seinen Schädel bohren würden, um das Leben aus ihm
herauszureißen. Er hatte keine Wahl. Andrej sammelte sein
letztes bisschen Willenskraft, um den Vampyr in
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