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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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kommt. In einigen
Tagen ist Vater Benedikt mit den Vollstreckern der Inquisition
hier. Wir können ihnen den Kadaver des Ungeheuers
präsentieren, oder unsere Kadaver werden kurz darauf in der
Sonne faulen.«
Er sah Andrej einen Moment lang abschätzend an, dann
streckte er den Arm aus und schob ihm den Weinkrug hin.
»Hier. Betrinkt Euch meinetwegen, wenn es Euch hilft. Ich
wollte, diese kleine Flucht wäre mir gestattet, aber Gottes
Gebote sind in dieser Hinsicht eindeutig. Morgen bei
Sonnenaufgang stehen die Soldaten zu Eurer Verfügung.«
Er machte eine Kopfbewegung auf den eisernen Ring im
Fußboden. »Ist das noch notwendig?«
Andrej war im ersten Moment so überrascht, dass er gar nicht
antwortete.
»Habe ich Euer Wort?«, fragte Thobias.
Andrej nickte. »Solange Ihr Abu Dun am Leben lasst.«
»Dann sind wir uns einig.« Thobias wandte sich zur Tür,
blieb aber noch einmal stehen, bevor er den Raum verließ.
»Ich muss noch einmal fort und mit meinem Vater sprechen«,
sagte er. »Ich werde Euch etwas zu essen bringen lassen. Ich
selbst werde wohl kaum vor Mitternacht zurück sein.«
»Ihr geht noch einmal nach Trentklamm?«, vermutete Andrej.
»Jemand muss den Menschen dort erklären, was mit Günther
geschehen ist«, antwortete Thobias betrübt. »Er war ein tapferer
Mann, und im Dorf sehr beliebt.«
Und ich habe ihn im Stich gelassen, dachte Andrej. Thobias
sprach die Worte zwar nicht aus, aber das war auch nicht nötig.
Sie wussten beide, dass es so gewesen war. Andrej versuchte
sich einzureden, dass er den Hundeführer nicht hätte retten
können. Das Ungeheuer hätte ihn ebenfalls getötet, ebenso
schnell und mühelos wie es Günther erschlagen hatte. Aber
dieses Wissen nutzte ihm nichts. Er fühlte sich trotzdem
schuldig. Günther war tot, weil er darauf bestanden hatte, tiefer
in die Schlucht vorzudringen.
»Hatte er Kinder?«
    »Günther?« Thobias nickte. »Drei. Und eine Frau, die das
vierte erwartet.
Ich werde für sie beten.« Damit ging er.
Andrej sah die geschlossene Tür hinter ihm einen Moment
lang an und wartete auf den Laut, den der Riegel machte, wenn
er vorgelegt wurde. Er ertönte nicht. Nachdem Thobias ihm vor
wenigen Augenblicken gesagt hatte, dass er ihm nicht traute,
erbrachte er ihm jetzt den zweiten Vertrauensbeweis. Keine
Kette, kein Riegel vor der Tür. Andrej konnte sich nur wundern.
Immerhin hatte er den Wein dagelassen.
Andrej schenkte sich einen weiteren Becher ein, stürzte ihn
diesmal aber nicht in einem Zug hinunter, sondern nippte nur
vorsichtig daran und trat dann ans Fenster.
Die Dämmerung war noch entfernt, aber es kam ihm so vor,
als wären die Schatten bereits länger geworden. Über den
Bergen im Westen schien etwas wie eine unsichtbare Düsternis
zu liegen; das Versprechen auf kommendes Unheil, dem etwas
Endgültiges anhaftete. Was immer geschehen würde, würde
geschehen, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
Andrej trank einen Schluck Wein, aber er schmeckte plötzlich
nicht mehr.
Seine Hand zitterte, als er den Becher auf dem Fenstersims
abstellte.
Was war mit ihm geschehen?
Er kannte die Antwort.
Es war das Ungeheuer.
Der Werwolf.
Es spielte keine Rolle, ob und aus welchem Grunde sich
Bruder Thobias weigerte, diesen Ausdruck zu verwenden, und
welche natürliche Erklärung für das Vorhandensein dieses
Wesens er sich zurechtgelegt hatte. Andrej hatte es gesehen. Er
hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Dem Werwolf.
Dem mythischen Fabelwesen aus tausend düsteren Geschichten,
das schreckliche Gestalt angenommen hatte. Er hatte es
gesehen, und er war niemals zuvor einem lebenden Wesen
begegnet, das ihm solche Angst eingejagt hatte.
Es war ebenso einfach wie erschreckend: Er spürte, dass
dieses Geschöpf ihn vernichten konnte. Es war stärker als er,
bösartiger und rücksichtsloser. Andrej hatte eine dieser
Kreaturen getötet, aber er hätte um ein Haar mit dem Leben
dafür bezahlt, und er wusste, dass dieser Sieg nicht seiner
Stärke geschuldet war. Er hatte den Werwolf überrascht, indem
er ihn auf eine Art angegriffen hatte, die diesem Wesen fremd
war. Ein zweites Mal würde ihm der Sieg nicht gelingen. Das
Geschöpf, dem er in den Bergen begegnet war, wusste um seine
besonderen Fähigkeiten.
Schon die Seele des ersten Werwolfes, die er in sich
aufgenommen hatte, hatte etwas in ihm bewirkt, über dessen
ganzes Ausmaß er sich noch immer nicht im Klaren war. Aber
es hatte ihn geschwächt statt ihm Kraft zu

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