Der Todeswirbel
ausgiebigen Marsches querfeldein mit sich ins Reine zu kommen. Bisher hatte sie sich stets geschmeichelt, einen klaren Kopf zu haben und immer zu wissen, was sie wollte. Dass sie überhaupt imstande war, sich so treiben zu la s sen, wie es in den letzten Tagen der Fall war, bedeutete etwas noch nie Dagewesenes bei ihr.
Ja, sie hatte sich treiben lassen, seitdem sie aus dem Dienst entlassen worden war. Heimweh und Sehnsucht überkam sie nach jenen Tagen, da alle Pflichten klar vo r gezeichnet waren und man ihr die Entscheidung über so viele Dinge abgenommen hatte. Doch im Augenblick, da sie sich dies klarmachte, erschrak sie vor der tieferen B e deutung dieser Erkenntnis. Ging es heutzutage nicht den meisten Menschen wie ihr? Und war der Krieg daran schuld? Es waren nicht die körperlichen Gefahren wie Minen im Meer oder Bombardements oder Schüsse aus dem Hinterhalt, die am nachhaltigsten wirkten, nein, viel schlimmer war es, dass man lernte, wie viel einfacher das Leben sein konnte, wenn man aufhörte, über die Dinge nachzudenken. Sie selbst war nicht mehr das intelligente Mädchen mit dem klaren Kopf und der Fähigkeit zu schnellen Entschlüssen, das sie gewesen war, als sie sich zum Dienst meldete. Man hatte sie eingereiht, ihre Fähi g keiten genützt, und nun stand sie da, wieder ganz auf sich selbst angewiesen, und fühlte sich auf einmal absolut nicht mehr imstande, mit ihren persönlichen Schwieri g keiten fertig zu werden.
Und diejenigen, die daheim geblieben waren… Zum Beispiel Rowley…
Der Name Rowley verscheuchte die allgemeinen Erw ä gungen aus Lynns Kopf und schob das Persönliche in den Vordergrund. Sie und Rowley. Das war der Ker n punkt des Problems. Das Problem überhaupt, um das es ging.
Lynn setzte sich auf halber Höhe des Hügels ins weiche Gras. Das Kinn auf die Hand gestützt, blickte sie über das in der Abenddämmerung versinkende Tal. Jeder Zeitbegriff war ihr abhanden gekommen, nur ihr inneres Widerstreben, sich auf den Heimweg zu machen, war ihr bewusst. Unter ihr, zur Linken, lag Long Willows. Ro w leys Farm, die ihr Heim sein würde, wenn sie ihn heirat e te.
Wenn! Da war es wieder, dieses »Wenn«!
Mit einem ängstlichen Schrei flog ein Vogel aus den Bäumen auf. Es klang wie der Schrei eines erschrockenen Kindes. Von einem in der Ferne vorbeiratternden Zug stiegen Rauchfahnen gen Himmel, und es schien Lynn, als formten sich die grauen Wolken zu wandernden Fr a gezeichen.
Soll ich Rowley heiraten? Will ich ihn noch heiraten? Habe ich ihn jemals wirklich heiraten wollen? Und kön n te ich es ertragen, ihn nicht zu heiraten?
Der Zug dampfte das Tal entlang und verschwand um eine Biegung. Der Rauch löste sich zitternd auf, doch für Lynn blieb das Fragezeichen bestehen. Sie hatte Rowley ehrlich geliebt, bevor sie wegging. Aber ich habe mich verändert, grübelte sie. Ich bin nicht mehr die gleiche Lynn.
Und Rowley? Rowley hatte sich nicht verändert.
Ja, das war es eben. Rowley hatte sich nicht verändert. Rowley war noch genauso, wie sie ihn vor vier Jahren verlassen hatte. Wollte sie Rowley heiraten? Und wenn sie es nicht wollte – was wollte sie dann eigentlich?
Zweige krachten im Gehölz hinter ihr, und eine fl u chende Männerstimme war zu hören, während sich j e mand durch das Dickicht Bahn brach.
»David!«, entfuhr es Lynn.
»Lynn!«
Er schaute überrascht auf, als er sie vor sich sah. »Was um Himmels willen machen Sie denn hier?«
Er musste in ziemlich scharfem Tempo gelaufen sein, denn sein Atem ging kurz.
»Nichts Besonderes. Dasitzen und nachdenken. Nichts weiter«, gab sie Auskunft. Sie lächelte unsicher. »Ich gla u be, es ist spät. Höchste Zeit für mich, heimzugehen.«
»Wissen Sie nicht, wie viel Uhr es ist?«, erkundigte sich David. Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
»Sie ist schon wieder stehen geblieben. Eine Spezialität von mir, alle meine Uhren aus der Bahn zu bringen.«
»Nicht nur Uhren!«, bemerkte David. »Sie sind erfüllt von Leben, von Elektrizität. Ihre Vitalität ist’s. Sie sind so lebendig.«
Er näherte sich ihr, und in vager Abwehr erhob sich Lynn.
»Es wird schon dunkel. Wirklich Zeit für mich, hei m zugehen. Wie spät ist es, David?«
»Viertel nach neun Uhr. Ich muss auch machen, dass ich weiterkomme. Ich muss den 9-Uhr-20-Zug nach London noch erreichen.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie überhaupt zurückg e kommen waren.«
»Ich musste in Furrowbank einiges holen. Aber ich darf den Zug nicht versäumen.
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