Der Todschlaeger
die Folter gespannt wurde, ihre
Tränen nicht mehr zurückhalten; ihr schien, als
erzähle das Lied von ihrer Qual, als sei sie
dieses von der Mutter verlassene Findelkind,
das der liebe Gott in Schutz nehmen würde.
Clémence, die sehr besoffen war, brach jäh in
Schluchzen aus; ihr Kopf war auf den Rand
des Tisches gesunken, und sie erstickte ihr
Aufschluchzen im Tischtuch. Bebende Stille
herrschte. Die Damen hatten ihre
Taschentücher gezückt, wischten sich mit
aufrechtem Gesicht die Augen und rechneten
sich ihre Rührung zur Ehre an. Die Männer
blickten mit vorgeneigter Stirn und zuckenden
Lidern starr vor sich hin. Poisson, dem sich die
Kehle zuschnürte und der die Zähne
zusammenbiß, brach zweimal hintereinander
Stückchen von der Pfeife ab und spuckte sie
auf die Erde, ohne mit Rauchen aufzuhören.
Boche, der seine Hand auf dem Knie der
Kohlenhändlerin gelassen hatte, kniff sie nicht
mehr, von undeutlicher Reue und Achtung
erfaßt, während zwei große Tränen seine
Wangen hinabrannen. Diese Saufbrüder waren
unbeugsam wie die Gerechtigkeit und sanft
wie Lämmer. Der Wein kam ihnen zu den
Augen heraus, was! Als der Kehrreim wieder
einsetzte, noch langsamer und noch
rührseliger, ließen sich alle freien Lauf, und
alle heulten wie die Schloßhunde auf ihre
Teller und zerflossen vor Rührung.
Aber Gervaise und Virginie ließen gegen ihren
Willen den gegenüberliegenden Bürgersteig
nicht mehr aus den Augen. Nun entdeckte Frau
Boche Lantier und stieß einen leichten Schrei
aus, ohne daß sie aufhörte, sich mit ihren
Tränen zu beschmieren. Da bekamen alle drei
bange Gesichter und nickten einander
unwillkürlich zu. Mein Gott, wenn Coupeau
sich umdrehte, wenn Coupeau den anderen
sah! Was für ein Gemetzel! Was für ein
Blutbad! Und sie machten das so deutlich, daß
der Bauklempner sie fragte:
»Was guckt ihr denn so?« Er beugte sich vor
und erkannte Lantier. »Himmelsakrament! Das
ist zu stark!« murmelte er. »Oh, dieses
Dreckmaul! Oh, dieses Dreckmaul! – Nein,
das ist zu stark, das wird gleich aufhören ...«
Und als er sich, gräßliche Drohungen
stammelnd, erhob, flehte Gervaise ihn mit
leiser Stimme an: »Hör doch, ich flehe dich
an ... Laß das Messer liegen ... Bleibe auf
deinem Platz, richte kein Unheil an!«
Virginie mußte ihm das Messer wegnehmen,
das er vom Tisch genommen hatte. Sie konnte
ihn aber nicht daran hindern, hinauszugehen
und sich Lantier zu nähern. Die Gesellschaft
sah nichts in ihrer zunehmenden Rührung,
weinte noch heftiger, während Frau Lerat mit
herzzerreißendem Ausdruck sang:
»Verloren war die arme Waise,
und ihre Stimme hörten leise
die Bäume nur und auch der Wind.«
Der letzte Vers zog wie ein jammervolles
Sturmeswehen vorüber. Frau Putois, die im
Begriff war zu trinken, war so gerührt, daß sie
ihren Wein auf das Tischtuch vergoß.
Währenddessen verharrte Gervaise, zu Eis
erstarrt, eine Faust auf den Mund gepreßt, um
nicht zu schreien, kniff vor Entsetzen die
Augen zusammen, war darauf gefaßt, jede
Sekunde zu sehen, wie einer der beiden
Männer da drüben totgeschlagen mitten auf die
Straße sank. Zutiefst interessiert verfolgten
Virginie und Frau Boche ebenfalls den
Auftritt. Von der frischen Luft überrumpelt,
hätte Coupeau sich beinahe in den Rinnstein
gesetzt, als er sich auf Lantier stürzen wollte.
Der war, die Hände in den Taschen, einfach
beiseite getreten. Und nun brüllten die beiden
Männer sich an, besonders der Bauklempner
putzte den anderen gehörig runter, schimpfte
ihn ein krankes Schwein und sprach davon,
ihm die Kaidaunen rauszureißen. Man hörte
den wütenden Stimmenlärm, man konnte
grimmige Gebärden unterscheiden, als würden
sie sich nun gleich mit gewaltigen Hieben die
Arme abschrauben. Gervaise schwanden die
Sinne, sie schloß die Augen, weil das zu lange
dauerte und sie glaubte, die beiden seien
immer noch drauf und dran, sich die Nase
abzubeißen, so nahe kamen sie sich, Gesicht
dicht an Gesicht. Da sie dann nichts mehr
hörte, öffnete sie die Augen wieder und saß
ganz dumm da, als sie sie ruhig miteinander
reden sah. Gurrend vor Weinerlichkeit schwoll
Frau Lerats Stimme an, als sie eine Strophe
begann:
»Am nächsten Tage dann, halbtot
fand man das Kind beim Morgenrot ...«
»Es gibt doch Frauen, die richtige Nutten
sind!« sagte Frau Lorilleux inmitten des
allgemeinen Beifalls.
Gervaise hatte mit Frau Boche und Virginie
einen
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