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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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die Folter gespannt wurde, ihre
    Tränen nicht mehr zurückhalten; ihr schien, als
    erzähle das Lied von ihrer Qual, als sei sie
    dieses von der Mutter verlassene Findelkind,
    das der liebe Gott in Schutz nehmen würde.
    Clémence, die sehr besoffen war, brach jäh in
    Schluchzen aus; ihr Kopf war auf den Rand
    des Tisches gesunken, und sie erstickte ihr
    Aufschluchzen im Tischtuch. Bebende Stille
    herrschte. Die Damen hatten ihre
    Taschentücher gezückt, wischten sich mit
    aufrechtem Gesicht die Augen und rechneten
    sich ihre Rührung zur Ehre an. Die Männer
    blickten mit vorgeneigter Stirn und zuckenden
    Lidern starr vor sich hin. Poisson, dem sich die
    Kehle zuschnürte und der die Zähne
    zusammenbiß, brach zweimal hintereinander
    Stückchen von der Pfeife ab und spuckte sie
    auf die Erde, ohne mit Rauchen aufzuhören.
    Boche, der seine Hand auf dem Knie der
    Kohlenhändlerin gelassen hatte, kniff sie nicht
    mehr, von undeutlicher Reue und Achtung
    erfaßt, während zwei große Tränen seine
    Wangen hinabrannen. Diese Saufbrüder waren
    unbeugsam wie die Gerechtigkeit und sanft
    wie Lämmer. Der Wein kam ihnen zu den
    Augen heraus, was! Als der Kehrreim wieder
    einsetzte, noch langsamer und noch
    rührseliger, ließen sich alle freien Lauf, und
    alle heulten wie die Schloßhunde auf ihre
    Teller und zerflossen vor Rührung.
    Aber Gervaise und Virginie ließen gegen ihren
    Willen den gegenüberliegenden Bürgersteig
    nicht mehr aus den Augen. Nun entdeckte Frau
    Boche Lantier und stieß einen leichten Schrei
    aus, ohne daß sie aufhörte, sich mit ihren
    Tränen zu beschmieren. Da bekamen alle drei
    bange Gesichter und nickten einander
    unwillkürlich zu. Mein Gott, wenn Coupeau
    sich umdrehte, wenn Coupeau den anderen
    sah! Was für ein Gemetzel! Was für ein
    Blutbad! Und sie machten das so deutlich, daß
    der Bauklempner sie fragte:
    »Was guckt ihr denn so?« Er beugte sich vor
    und erkannte Lantier. »Himmelsakrament! Das
    ist zu stark!« murmelte er. »Oh, dieses
    Dreckmaul! Oh, dieses Dreckmaul! – Nein,
    das ist zu stark, das wird gleich aufhören ...«
    Und als er sich, gräßliche Drohungen
    stammelnd, erhob, flehte Gervaise ihn mit
    leiser Stimme an: »Hör doch, ich flehe dich
    an ... Laß das Messer liegen ... Bleibe auf
    deinem Platz, richte kein Unheil an!«
    Virginie mußte ihm das Messer wegnehmen,
    das er vom Tisch genommen hatte. Sie konnte
    ihn aber nicht daran hindern, hinauszugehen
    und sich Lantier zu nähern. Die Gesellschaft
    sah nichts in ihrer zunehmenden Rührung,
    weinte noch heftiger, während Frau Lerat mit
    herzzerreißendem Ausdruck sang:
    »Verloren war die arme Waise,
    und ihre Stimme hörten leise
    die Bäume nur und auch der Wind.«
    Der letzte Vers zog wie ein jammervolles
    Sturmeswehen vorüber. Frau Putois, die im
    Begriff war zu trinken, war so gerührt, daß sie
    ihren Wein auf das Tischtuch vergoß.
    Währenddessen verharrte Gervaise, zu Eis
    erstarrt, eine Faust auf den Mund gepreßt, um
    nicht zu schreien, kniff vor Entsetzen die
    Augen zusammen, war darauf gefaßt, jede
    Sekunde zu sehen, wie einer der beiden
    Männer da drüben totgeschlagen mitten auf die
    Straße sank. Zutiefst interessiert verfolgten
    Virginie und Frau Boche ebenfalls den
    Auftritt. Von der frischen Luft überrumpelt,
    hätte Coupeau sich beinahe in den Rinnstein
    gesetzt, als er sich auf Lantier stürzen wollte.
    Der war, die Hände in den Taschen, einfach
    beiseite getreten. Und nun brüllten die beiden
    Männer sich an, besonders der Bauklempner
    putzte den anderen gehörig runter, schimpfte
    ihn ein krankes Schwein und sprach davon,
    ihm die Kaidaunen rauszureißen. Man hörte
    den wütenden Stimmenlärm, man konnte
    grimmige Gebärden unterscheiden, als würden
    sie sich nun gleich mit gewaltigen Hieben die
    Arme abschrauben. Gervaise schwanden die
    Sinne, sie schloß die Augen, weil das zu lange
    dauerte und sie glaubte, die beiden seien
    immer noch drauf und dran, sich die Nase
    abzubeißen, so nahe kamen sie sich, Gesicht
    dicht an Gesicht. Da sie dann nichts mehr
    hörte, öffnete sie die Augen wieder und saß
    ganz dumm da, als sie sie ruhig miteinander
    reden sah. Gurrend vor Weinerlichkeit schwoll
    Frau Lerats Stimme an, als sie eine Strophe
    begann:
    »Am nächsten Tage dann, halbtot
    fand man das Kind beim Morgenrot ...«
    »Es gibt doch Frauen, die richtige Nutten
    sind!« sagte Frau Lorilleux inmitten des
    allgemeinen Beifalls.
    Gervaise hatte mit Frau Boche und Virginie
    einen

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