Der Todschlaeger
Waden der
Kohlenhändlerin entlang Mäuschen. Das hätte
häßlich werden können, wenn Goujet nicht auf
einen kurzen Blick von Gervaise hin die Stille
und die Achtung mit dem »Abschied
AbdelKaders«59 wiederhergestellt hätte, den
er mit seiner Baßstimme grollte. Der besaß
aber eine gediegene Tiefe, du meine Güte! Das
drang aus seinem ausgebreiteten schönen
gelben Bart hervor wie aus einer kupfernen
Trompete. Als er, von der schwarzen Stute des
Kriegers sprechend, den Schrei »O meine edle
Gefährtin!« herausschleuderte, schlugen die
Herzen, man klatschte ihm Beifall, ohne den
Schluß abzuwarten, so laut hatte er geschrien.
»Sie sind dran, Vater Bru, Sie sind dran!«
sagte Mama Coupeau. »Singen Sie Ihr Lied.
Die alten sind die hübschesten, das kann ich
Ihnen sagen!«
Und die Gesellschaft drehte sich zu dem Alten
um, ließ nicht locker, redete ihm zu. Ganz
benommen mit seiner reglosen Maske aus
gegerbter Haut, sah er die Leute an, ohne
anscheinend zu verstehen. Man fragte ihn, ob
er die »Fünf Vokale« kenne. Er senkte das
Kinn; er erinnerte sich nicht mehr; alle Lieder
aus der guten alten Zeit vermengten sich in
seinem Nischel. Als man beschloß, ihn in
Ruhe zu lassen, schien er sich zu entsinnen
und lallte mit Grabesstimme:
»Trulala, trulala,
trula, trula, trulala!«
Sein Gesicht belebte sich, dieser Kehrreim
mußte wohl ferne Freuden in ihm wachrufen,
die er allein genoß, indem er mit kindlichem
Entzücken seiner immer dumpfer werdenden
Stimme lauschte.
»Trulala, trulala,
trula, trula, trulala!«
»Hören Sie mal, meine Liebe«, flüsterte
Virginie Gervaise ins Ohr, »Sie wissen ja, ich
komme schon wieder von dort. Es quälte
mich ... Also, Lantier ist von François
abgehauen.«
»Haben Sie ihn draußen nicht getroffen?«
fragte die Wäscherin.
»Nein, ich bin schnell gegangen, ich habe
nicht daran gedacht, mich umzusehen.« Aber
Virginie, die aufblickte, unterbrach sich und
stieß einen unterdrückten Seufzer aus. »Oh,
mein Gott! – Da steht er auf dem Bürgersteig
gegenüber; er sieht hierher.«
Ganz erschüttert wagte Gervaise einen kurzen
Blick. Auf der Straße hatten sich Menschen
angesammelt, um der Gesellschaft beim
Singen zuzuhören. Die Gehilfen des
Kolonialwarenhändlers,
die
Kaldaunenhändlerin und der kleine Uhrmacher
bildeten eine Gruppe und schienen im Theater
zu sein. Da waren Soldaten, Bürger im
Gehrock, drei kleine Mädchen von fünf oder
sechs Jahren, die sich an den Händen hielten
und ganz ernst und aufs höchste verwundert
waren. Und tatsächlich hatte sich Lantier dort
hingepflanzt, in der ersten Reihe, und hörte
und schaute mit ruhiger Miene zu. Das war
wirklich eine Frechheit. Gervaise fühlte, wie
ihr Kälte von den Beinen zum Herzen
emporstieg, und sie wagte sich nicht mehr zu
rühren, während Vater Bru fortfuhr:
»Trulala, trulala,
trula, trula, trulala!«
»Ach nein, alter Freund, das ist genug!« sagte
Coupeau. »Kennen Sie das denn ganz? – Sie
können es uns ja einen anderen Tag vorsingen,
he, wenn wir allzu lustig sind.«
Es gab Gelächter. Der Alte blieb stecken, ließ
seine blassen Augen um den Tisch schweifen
und nahm wieder das Aussehen dösenden
Viehs an. Der Kaffee war getrunken, der
Bauklempner hatte wieder Wein verlangt.
Soeben hatte Clémence wieder angefangen,
Erdbeeren zu essen. Einen Augenblick lang
hörten die Lieder auf, man sprach von einer
Frau, die man am Morgen im Nebenhaus
erhängt aufgefunden hatte.
Frau Lerat war an der Reihe, aber sie benötigte
Vorbereitungen. Sie tauchte den Zipfel ihrer
Serviette in ein Glas Wasser und legte ihn sich
auf die Schläfen, weil ihr zu warm war. Darauf
bat sie um ein Tröpfchen Branntwein, trank
ihn und wischte sich ausgiebig die Lippen ab.
»›Das Findelkind‹, nicht wahr?« murmelte sie.
»›Das Findelkind‹ ...« Und groß, männlich,
mit ihrer knochigen Nase und ihren
vierschrötigen Dragonerschultern, begann sie:
»Von der Mutter verlassen, ein Findelkind,
an heilger Stätte ein Obdach find't.
Und Gott beschirmt es mit seinem Thron.
Ein Findelkind, das ist Gottes Sohn.«
Ihre Stimme zitterte bei bestimmten Worten
und schleppte sich in erweichten Tönen dahin;
sie blickte mit seitwärts verdrehten Augen zum
Himmel empor, während sie ihre rechte Hand
vor der Brust hin und her schlenkerte und mit
einer ergriffenen Gebärde auf ihr Herz preßte.
Da konnte Gervaise, die durch Lantiers
Gegenwart auf
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