Der Todschlaeger
Blick gewechselt. Es ging also in
Ordnung?
Coupeau und Lantier redeten weiter an der
Kante des Bürgersteiges. Sie beschimpften
sich noch immer, aber freundschaftlich. Sie
nannten sich »verdammter Dummkopf« in
einem Ton, bei dem ein Anflug von Zuneigung
durchklang. Da man ihnen zuschaute, gingen
sie schließlich langsam Seite an Seite längs der
Häuser auf und ab, wobei sie alle zehn Schritte
umkehrten. Es hatte sich eine sehr lebhafte
Unterhaltung entsponnen. Coupeau schien jäh
von neuem böse zu werden, während der
andere ablehnte und sich bitten ließ. Und der
Bauklempner schob Lantier vorwärts und
zwang ihn, die Straße zu überqueren, um in
den Laden zu treten.
»Ich sage Ihnen, es geschieht von Herzen
gern!« rief er. »Sie werden ein Glas Wein
trinken ... Männer sind Männer, nicht wahr?
Man ist doch dazu da, um sich zu
verstehen ...«
Frau Lerat beendete den letzten Kehrreim. Ihre
Taschentücher
zusammenknüllend,
wiederholten die Damen alle gemeinsam:
»Ein Findelkind, das ist Gottes Sohn.«
Der Sängerin, die sich setzte, wobei sie so tat,
als sei sie ganz zerschlagen, machte man viele
Komplimente. Sie bat um etwas zu trinken,
weil sie zuviel Gefühl in dieses Lied lege und
stets Angst habe, sich einen Nerv auszuhaken.
Die ganze Tafelrunde starrte indessen auf
Lantier, der friedlich neben Coupeau saß und
bereits die letzte Portion Napfkuchen aß, den
er in ein Glas Wein tunkte. Außer Virginie und
Frau Boche kannte ihn niemand. Die Lorilleux
witterten zwar irgendeinen Dreh, aber sie
wußten nichts und hatten eine verkniffene
Miene aufgesetzt. Goujet, der Gervaises
Erregung bemerkt hatte, sah den
Neuankömmling scheel an. Da verlegenes
Schweigen eintrat, sagte Coupeau einfach:
»Das ist ein Freund.« Und sich an seine Frau
wendend: »Na, so rühr dich doch! – Vielleicht
ist noch heißer Kaffee da.«
Sanft und stumpfsinnig betrachtete Gervaise
einen nach dem anderen. Als ihr Mann ihren
ehemaligen Geliebten in den Laden geschoben
hatte, hatte sie den Kopf zwischen beide
Fäuste genommen, mit derselben instinktiven
Gebärde wie an Tagen schweren Gewitters bei
jedem Donnerschlag. Das schien ihr nicht
möglich; gleich würden die Wände einstürzen
und alle zerschmettern. Als sie dann die beiden
Männer dasitzen sah, ohne daß sich auch nur
die Musselinvorhänge bewegt hätten, hatte sie
dies alles plötzlich natürlich gefunden. Die
Gans verursachte ihr etwas Beschwerden; sie
hatte entschieden zuviel davon gegessen, und
das hinderte sie am Denken. Eine glückliche
Trägheit machte sie benommen und hielt sie
zusammengesackt an der Tischkante zurück,
mit dem einzigen Verlangen, nicht angeödet
zu werden. Mein Gott, wozu sich die Galle an
den Hals ärgern, wenn die anderen es nicht tun
und alles von selber zur allgemeinen
Zufriedenheit in Ordnung zu gehen scheint?
Sie erhob sich, um nachzusehen, ob noch
Kaffee übrig war.
Im hinteren Raum schliefen die Kinder.
Augustine, diese Schielliese, hatte sie während
des ganzen Nachtisches terrorisiert, indem sie
ihnen ihre Erdbeeren mauste und sie mit
fürchterlichen Drohungen einschüchterte. Nun
war sie ganz krank und hockte mit weißem
Gesicht auf einer Fußbank, ohne irgend etwas
zu sagen. Die dicke Pauline hatte ihren Kopf
an Etiennes Schulter sinken lassen, der selber
an der Tischkante eingeschlafen war. Nana saß
auf dem Bettvorleger neben Victor, den sie an
sich drückte und um dessen Hals sie einen
Arm geschlungen hatte, und verschlafen sagte
sie mit geschlossenen Augen immer wieder
mit schwacher und steter Stimme:
»Oh, Mama, ich habe Wehweh ... oh, Mama,
ich habe Wehweh ...«
»Herrgott!« flüsterte Augustine, deren Kopf
auf die Schulter rollte. »Sie sind knülle; sie
haben wie die Erwachsenen gezwitschert.«
Etiennes Anblick versetzte Gervaise einen
neuen Schlag. Sie fühlte, wie sie erstickte,
wenn sie daran dachte, daß der Vater dieses
Bengels dort nebenan saß und dabei war,
Kuchen zu essen, ohne daß er auch nur das
Verlangen bekundet hatte, den Kleinen zu
umarmen. Sie war nahe daran, Etienne zu
wecken, ihn auf ihren Armen hineinzutragen.
Dann fand sie abermals die ruhige Art und
Weise sehr gut, wie die Dinge in Ordnung
gingen. Es hätte sich nicht gehört, das Ende
des Abendessens zu stören.
Sie kam mit der Kaffeekanne zurück und
schenkte Lantier, der sich übrigens nicht um
sie zu kümmern schien, ein Glas Kaffee ein.
»Jetzt bin ich
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