Der Todschlaeger
Färbung, ein so zartes Blau
wie das Blau von einst. Aber sie, sie fühlte,
daß sie jetzt ganz schön verändert und
verschrumpelt war. Zunächst einmal stand sie
nicht mehr unten, das Gesicht zum Himmel
erhoben, zufrieden und mutig, eine schöne
Wohnung erstrebend. Sie war unterm Dach, im
Winkel der armen Schlucker, im dreckigsten
Loch, an der Stelle, wo man niemals den
Besuch eines Sonnenstrahls empfing. Und das
erklärte ihre Tränen, sie konnte ja über ihr Los
nicht entzückt sein.
Als sich Gervaise allerdings ein wenig
eingelebt hatte, ließen sich die Anfänge der
Familie in der neuen Wohnung nicht schlecht
an. Der Winter war fast vorüber, die paar Sous
für die Virginie überlassenen Möbel hatten das
Einrichten erleichtert. Ferner trat gleich mit
den schönen Tagen ein Glücksfall ein:
Coupeau war eingestellt worden; er sollte in
die Provinz gehen und in Etampes arbeiten;
und dort war er fast ein Vierteljahr, ohne sich
zu besaufen, eine Weile geheilt durch die
Landluft. Man ahnt ja nicht, wie sehr den
Trunkenbolden der Durst vergeht, wenn sie
aus der Luft von Paris herauskommen, wo auf
der Straße ein wahrer Schnaps und Weindunst
herrscht. Bei seiner Rückkehr war er frisch wie
eine Rose, und er brachte vierhundert Francs
mit, von denen sie die beiden rückständigen
Mieten für den Laden bezahlten, für die die
Poissons aufgekommen waren, sowie andere
kleine Schulden im Viertel, die sich am
meisten zusammengeläppert hatten. Gervaise
machte sich zwei oder drei Straßen frei, durch
die sie nicht mehr gegangen war. Natürlich
hatte sie als Plätterin auf Tagelohn
angefangen. Frau Fauconnier, eine sehr gute
Frau, vorausgesetzt, daß man ihr schmeichelte,
hatte sie gern wieder genommen. Sie gab ihr
sogar drei Francs wie einer Vorarbeiterin, mit
Rücksicht auf ihre ehemalige Stellung als
Meisterin. So schien es denn auch, als sollte
die Familie langsam vorwärtskommen.
Gervaise sah mit Arbeit und Sparsamkeit sogar
den Tag nahen, an dem sie alles bezahlen und
sich auf einen erträglichen alltäglichen Trott
würden einstellen können. Allerdings erhoffte
sie das bloß im Fieber der großen Summe, die
ihr Mann verdient hatte. Nüchtern besehen,
nahm sie die Zeit hin, wie sie kam, und sagte,
daß das Gute nicht von Dauer sei.
Am meisten hatten die Coupeaus jetzt darunter
zu leiden, daß sie sahen, wie sich die Poissons
in ihrem Laden einrichteten. Ihrer Natur nach
waren sie gar nicht allzu neidisch, aber man
reizte sie und brach absichtlich in ihrer
Gegenwart in höchste Bewunderung über die
von ihren Nachfolgern vorgenommenen
Verschönerungen aus, Die Boches und vor
allem die Lorilleux waren unerschöpflich
darin. Ihrem Reden nach hätte man niemals
einen schöneren Laden gesehen. Und sie
sprachen von dem dreckigen Zustand, in dem
die Poissons die Räumlichkeiten vorgefunden
hatten, sie erzählten, allein das Reinigen habe
sich auf dreißig Francs belaufen. Nach
einigem Zögern hatte sich Virginie für einen
kleinen Handel mit feinen Kolonialwaren,
Bonbons, Schokolade, Kaffee, Tee,
entschlossen. Lantier hatte ihr lebhaft zu
diesem Handel geraten, denn mit Leckereien
seien, wie er sagte, Riesensummen zu
verdienen. Der Laden wurde schwarz
gestrichen und mit schmalen gelben Leisten
abgesetzt, zwei vornehme Farben. Drei
Tischler arbeiteten acht Tage an der
Einrichtung der Fächerschränke, der Vitrinen,
eines Ladentisches mit Platten für die
Bonbongläser wie bei einem Konditor. Die
kleine Erbschaft, die Poisson in Reserve hatte,
mußte derb angegriffen worden sein. Aber
Virginie triumphierte, und die Lorilleux, die
dabei von den Portiersleuten unterstützt
wurden, ersparten Gervaise keinen
Fächerschrank, keine Vitrine, kein
Bonbonglas, hatten ihren Spaß daran, wenn sie
sahen, wie ihr Gesicht die Farbe wechselte.
Sowenig mißgünstig man auch sein mag, man
wird immer wütend, wenn andere die Schuhe
von einem anziehen und einen damit zertreten.
Dahinter steckte auch eine Männergeschichte.
Es wurde versichert, Lantier habe Gervaise
verlassen. Das Viertel erklärte das für sehr gut.
Das brachte endlich ein bißchen Moral in die
Straße. Und die ganze Ehre der Trennung fiel
dem Hutmacher zu, diesem Schlauberger, den
die Damen immer noch anhimmelten.
Einzelheiten wurden angeführt, er habe die
Wäscherin ohrfeigen müssen, um sie dazu zu
bringen, sich ruhig zu verhalten, so versessen
sei sie hinter ihm hergewesen.
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