Der Todschlaeger
Natürlich sagte
niemand die richtige Wahrheit; diejenigen, die
sie hätten wissen können, erachteten sie für zu
einfach und nicht interessant genug. Wenn
man wollte, so hatte Lantier Gervaise
tatsächlich verlassen, in dem Sinne, daß er sie
tags und nachts nicht mehr zur Verfügung
hatte; aber bestimmt ging er hinauf, um sie im
sechsten Stock zu besuchen, wenn er Lust
dazu bekam, denn Fräulein Remanjou traf ihn,
wie er zu wenig üblichen Stunden bei den
Coupeaus herauskam. Kurzum, die
Beziehungen dauerten auf allerlei Art und
Weise und so gut es eben ging an, ohne daß
beide viel Vergnügen dabei hatten; ein Rest
Gewohnheit, gegenseitige Gefälligkeiten, nicht
mehr. Allerdings wurde die Situation dadurch
kompliziert, daß das Viertel nun Lantier und
Virginie unter eine Decke steckte. Auch darin
hatte es das Viertel zu eilig. Zweifellos heizte
der Hutmacher der großen Brünetten tüchtig
ein, und das war ganz natürlich, da sie
Gervaise ja in jeder Hinsicht in der Wohnung
ersetzte. Es machte gerade ein Witz die Runde;
man behauptete, eines Nachts habe er Gervaise
vom Kopfkissen des Nachbarn holen wollen,
und er habe Virginie mitgenommen und bei
sich behalten, ohne daß er sie infolge der
Dunkelheit vor dem Morgengrauen erkannt
hatte. Die Geschichte gab Anlaß zum Spaßen,
aber in Wirklichkeit war er noch nicht soweit
vorangekommen, er erlaubte sich kaum, ihr in
die Hüften zu kneifen. Nichtsdestoweniger
sprachen die Lorilleux in Gegenwart der
Wäscherin mit Rührung über die
Liebesangelegenheiten von Lantier und Frau
Poisson und hofften, sie eifersüchtig zu
machen. Auch die Boches ließen durchblicken,
daß sie nie ein schöneres Paar gesehen hatten.
Das Komische an alldem war, daß die Rue de
la Goutted'Or die neue Ehe zu dritt nicht
übelzunehmen schien; nein, die Moral, die
Gervaise gegenüber streng war, zeigte sich
Virginie gegenüber mild. Vielleicht rührte die
lächelnde Nachsicht der Straße daher, daß der
Ehemann Polizist war.
Glücklicherweise wurde Gervaise kaum von
Eifersucht gequält. Lantiers Untreue ließ sie
ganz ruhig, weil ihr Herz seit langem bei ihren
Beziehungen überhaupt nicht mehr beteiligt
war. Sie hatte unsaubere Geschichten
vernommen, ohne daß sie sich bemüht hatte,
sie zu erfahren, Verhältnisse des Hutmachers
mit allen möglichen Dirnen, den ersten besten
ausstaffierten Hündchen, die auf der Straße
vorbeikamen; und das machte so wenig
Eindruck auf sie, daß sie weiterhin willfährig
gewesen war, ohne auch nur genügend Zorn in
sich zu entdecken, um mit ihm zu brechen. Die
neue Liebschaft ihres Geliebten nahm sie
allerdings nicht so leicht hin. Bei Virginie war
das etwas anderes. Sie hatten das beide zu dem
einzigen Zweck ersonnen, um sie zu reizen;
und wenn sie auf die Lappalie auch pfiff, so
legte sie doch Wert auf Rücksichtnahme.
Wenn Frau Lorilleux oder irgendeine andere
bösartige dumme Person absichtlich in ihrer
Gegenwart sagte, Poisson könne seiner Hörner
wegen nicht mehr unter der Porte
SaintDenis89 hindurchgehen, wurde sie denn
auch ganz weiß, es zerriß ihr das Herz, sie
fühlte ein Brennen im Magen. Sie kniff die
Lippen zusammen, sie vermied es, sich zu
ärgern, weil sie ihren Feinden dieses
Vergnügen nicht bereiten wollte. Aber sie
mußte wohl mit Lantier herumzanken, denn
Fräulein Remanjou glaubte eines Nachmittags
das Klatschen einer Ohrfeige herauszuhören.
Überdies gab es sicherlich ein Zerwürfnis,
Lantier sprach vierzehn Tage lang nicht mit
ihr, dann bot er als erster die Hand zur
Versöhnung, und der alte Trott schien von
vorn anzufangen, als sei nichts gewesen. Die
Wäscherin zog es vor, sich damit abzufinden,
da sie vor einer Rauferei unter Weibern
zurückschreckte und von dem Wunsch erfüllt
war, ihr Leben nicht noch mehr zu
verpfuschen. Ach, sie war keine zwanzig Jahre
mehr, sie liebte die Männer nicht mehr so sehr,
daß sie um ihrer schönen Augen willen
Arschhiebe austeilte und es riskierte, auf die
Polizeiwache zu kommen. Sie rechnete es
lediglich zu dem übrigen hinzu.
Coupeau machte Witze. Dieser bequeme
Ehemann, der nicht hatte sehen wollen, daß
seine Frau ihn betrog, ulkte mordsmäßig über
Poissons Hörner. In seiner Ehe zählte es nicht;
aber in der Ehe anderer kam es ihm spaßig vor,
und er gab sich eine verteufelte Mühe, um
solche Vorfälle abzupassen, wenn die Frauen
der Nachbarn zu einem Schäferstündchen ins
Grüne gingen. Was
Weitere Kostenlose Bücher