Der Todschlaeger
beweinte
nicht mehr allein Mama Coupeau, sie beweinte
irgend etwas Abscheuliches, das sie nicht hätte
nennen können und an dem sie erstickte.
Während des ganzen Weges hielt sie ihr
Taschentuch an die Augen gedrückt. Frau
Lorilleux, deren Wangen trocken und gerötet
waren, betrachtete sie von der Seite und sah
dabei aus, als werfe sie ihr Getue vor.
Die Zeremonie in der Kirche wurde schnell
abgemacht. Die Messe zog sich jedoch ein
wenig hin, weil der Priester sehr alt war.
MeineBotten und RöstfleischBibi hatten es
vorgezogen, wegen der Kollekte draußen zu
bleiben. Herr Madinier studierte die ganze Zeit
über die Pfarrer und teilte Lantier seine
Beobachtungen mit: diese Hanswurste da
wüßten, wenn sie ihr Latein spuckten, nicht
einmal, was sie quatschten; sie beerdigten
jemand, wie sie ihn getauft oder verheiratet
hätten, ohne das geringste Gefühl im Herzen
zu haben. Dann tadelte Herr Madinier diesen
Haufen Zeremonien, diese Lichter, diese
traurigen Stimmen, dieses Protzen vor den
Familien. Wirklich, man verliere seine
Angehörigen zweimal, zu Hause und in der
Kirche. Und alle Männer gaben ihm recht,
denn es gab noch einen peinlichen
Augenblick, als nach Ende der Messe Gebete
geschnattert wurden und die Anwesenden,
Weihwasser sprengend, an der Leiche
vorbeiziehen mußten. Zum Glück war der
Friedhof nicht weit, der kleine Friedhof von La
Chapelle, ein Stückchen Garten, dessen
Eingang zur Rue Marcadet zu lag. Der Zug
kam in heillosem Durcheinander, mit den
Füßen stampfend, dort an, und jeder redete
von seinen Angelegenheiten. Die harte Erde
hallte, man hätte sich gern die Füße warm
getrampelt. Das gähnende Loch, neben das
man den Sarg gestellt hatte, war schon ganz
gefroren, bleifahl und steinig wie ein
Gipsbruch; und die Anwesenden, die sich um
die Schutthügelchen aufgestellt hatten, fanden
es nicht spaßig, bei einer solchen Kälte zu
warten, waren verärgert, daß sie das Loch
anschauen mußten. Endlich kam ein Priester
im Chorhemd aus einem Häuschen; er
bibberte, bei jedem »de profundis«87, das er
ausstieß, sah man seinen Atem dampfen. Beim
letzten Kreuzeszeichen entfloh er und hatte
keine Lust, noch einmal anzufangen. Der
Totengräber nahm seine Schaufel; doch wegen
des Frostes brach er nur dicke Klumpen los,
die dort unten in der Tiefe eine schöne Musik
trommelten, ein wahres Bombardement auf
den Sarg, ein Bestreichen mit
Kanonenschüssen, daß man meinte, das Holz
würde spalten. Man mag noch so egoistisch
sein, diese Musik da dreht einem den Magen
um. Die Tränen begannen wieder zu fließen.
Man ging weg, man war schon draußen, als
man die Detonationen immer noch hörte.
MeineBotten, der sich in die Finger blies,
machte
laut
eine
Bemerkung:
Himmeldonnerwetter, nein! Warm würde der
armen Mama Coupeau ja nicht sein!
»Meine Damen und alle Anwesenden«, sagte
der Bauklempner zu den wenigen Freunden,
die mit der Familie auf der Straße
zurückgeblieben waren, »wenn Sie uns
freundlichst erlauben wollen, Ihnen etwas
anzubieten ...« Und er betrat als erster eine
Weinschenke in der Rue Marcadet, »A la
Descente du cimetière«88.
Gervaise, die auf dem Bürgersteig geblieben
war, rief Gouiet, der sich entfernte, nachdem
er sie mit einem abermaligen Kopfnicken
gegrüßt hatte. Warum nehme er nicht ein Glas
Wein an? Aber er hatte es eilig, er ging in die
Werkstatt zurück. Da schauten sie sich einen
Augenblick an, ohne etwas zu sagen.
»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen der
sechzig Francs«, murmelte die Wäscherin
schließlich. »Ich war wie eine Irre, ich habe an
Sie gedacht ...«
»Oh, keine Ursache, Ihnen ist verziehen«,
unterbrach der Schmied. »Und Sie wissen ja,
ich stehe Ihnen ganz zu Diensten, wenn Ihnen
ein Unglück zustoßen sollte ... Aber sagen Sie
Mama nichts davon, weil sie so ihre Ansichten
hat und ich ihr keinen Ärger machen will.«
Sie schaute ihn immer noch an; und als sie ihn
so gut, so traurig mit seinem schönen gelben
Bart sah, war sie nahe daran, auf seinen
früheren Vorschlag einzugehen, mit ihm
fortzugehen, um irgendwo miteinander
glücklich zu sein. Dann kam ihr ein anderer
schlechter Gedanke, nämlich die Miete für die
beiden Quartale von ihm zu borgen, ganz
gleich um welchen Preis. Sie zitterte und
meinte mit einschmeichelnder Stimme:
»Wir sind doch nicht böse miteinander, nicht
wahr?«
Er schüttelte den Kopf und erwiderte:
»Nein, bestimmt nicht, wir
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