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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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denen sie im
    dichten Gewühl auf den Bürgersteigen
    angerempelt wurde. Und gerade in diesen
    Augenblicken flüsterte ihr Alter ihr Anträge
    ins Ohr; das blieb niemals aus. Ach, wie gern
    hätte sie in seine Hand eingeschlagen, wenn
    sie nicht Angst vor ihm gehabt hätte, ein
    inneres Aufbegehren, das sie in ihren
    Weigerungen starr werden ließ, weil sie trotz
    ihrer ganzen Lasterhaftigkeit wütend und
    angeekelt war vom Unbekannten des Mannes.
    Aber als der Winter kam, wurde das Dasein
    bei den Coupeaus unerträglich. Jeden Abend
    bekam Nana ihre Keile. War ihr Vater es
    müde, sie zu schlagen, verabreichte ihr die
    Mutter Backpfeifen, um ihr beizubringen, sich
    gut aufzuführen. Und oft waren es allgemeine
    tolle Tänze; sobald der eine drauflosschlug,
    verteidigte der andere sie, so daß sich
    schließlich alle drei inmitten des
    zerschlagenen Geschirrs auf dem
    Fliesenfußboden wälzten. Dazu aß man sich
    überhaupt nicht mehr satt und verreckte vor
    Kälte. Wenn die Kleine sich irgend etwas
    Nettes kaufte, eine Schleife oder
    Manschettenknöpfe, beschlagnahmten die
    Eltern es ihr und gingen es verkloppen. Sie
    besaß nichts weiter als ihre regelmäßigen
    Einkünfte an Maulschellen, bevor sie sich
    zwischen die zerfetzten Laken verkroch, wo
    sie unter ihrem kleinen schwarzen Unterrock
    bibberte, den sie statt einer Decke ausbreitete.
    Nein, dieses verfluchte Leben konnte nicht
    weitergehen, sie wollte keinesfalls ihre Haut
    dabei lassen. Ihr Vater zählte seit langem nicht
    mehr; wenn ein Vater sich besäuft, wie ihrer
    sich besoff, so ist das kein Vater, sondern ein
    schmutziges Tier, das man gern los sein
    möchte. Und nun war die Mutter an der Reihe,
    in Nanas Zuneigung immer tiefer zu sinken.
    Auch sie trank. Sie trat zu ihrem Vergnügen
    bei Vater Colombe ein und holte ihren Mann
    ab, bloß um sich etwas zu trinken anbieten zu
    lassen; und sie setzte sich sehr gern an den
    Tisch, ohne ein angeekeltes Gehabe zur Schau
    zu tragen wie beim erstenmal, kippte die
    Gläser mit einem Zug hinter, lümmelte sich
    stundenlang auf den Ellbogen hin, und wenn
    sie von dort wegging, traten ihr die Augen aus
    dem Kopf. Erblickte Nana, wenn sie am
    »Totschläger« vorüberging, im Hintergrund
    ihre Mutter, mit der Nase im Schnäpschen,
    schlapp inmitten des Gegröles der Männer, so
    packte sie rasender Zorn, weil die Jugend, der
    der Schnabel nach einer anderen Leckerei
    steht, den Suff nicht begreift. An diesen
    Abenden bot sich ihr ein schönes Bild: der
    Papa beduselt, die Mama beduselt, eine
    gottverdammte Bude, in der kein Brot
    vorhanden war und die der Alkohol vergiftete.
    Kurzum, da wäre keine Heilige dringebliehen.
    Kein Wunder, wenn sie nächstens ausrücken
    würde; ihre Eltern mochten ruhig ihr »Mea
    culpa«94 sprechen und sagen, daß sie sie
    selber hinausgetrieben hatten.
    An einem Sonnabend fand Nana beim
    Nachhausekommen ihren Vater und ihre
    Mutter in einem scheußlichen Zustand vor.
    Coupeau, der querüber das Bett gesunken war,
    schnarchte Gervaise, die auf einem Stuhl
    zusammengesackt war, rollte den Kopf hin
    und her mit verschwommenen und
    besorgniserregend ins Leere blickenden
    Augen. Sie hatte vergessen, das Abendessen,
    einen Rest Ragout, warm zu machen. Eine
    Kerze, die sie nicht zu putzen pflegte,
    beleuchtete das schändliche Elend des
    Drecklochs.
    »Bist du es, du Kröte?« lallte Gervaise. »Na,
    dein Vater wird dir aber Bescheid stoßen!«
    Nana antwortete nicht, wurde ganz weiß,
    betrachtete den kalten Ofen, den Tisch ohne
    Teller, den schauerlichen Raum, in den dieses
    Säuferpaar das bleiche Grauen seines
    Stumpfsinns hineinbrachte. Sie nahm ihren
    Hut nicht ab und ging durch die Stube; die
    Zähne zusammenbeißend, öffnete sie dann
    wieder die Tür, sie ging davon.
    »Gehst du wieder runter?« fragte ihre Mutter,
    ohne den Kopf drehen zu können.
    »Ja, ich habe etwas vergessen. Ich komme
    gleich wieder rauf ... Guten Abend.«
    Und sie kam nicht wieder.
    Am nächsten Morgen prügelten sich die
    nüchtern gewordenen Coupeaus und rieben es
    sich gegenseitig unter die Nase, daß Nana
    davongeflogen war. Ach, die war weit weg,
    wenn sie immer noch rannte! Wie man den
    Kindern empfiehlt, den Spatzen Salz auf den
    Schwanz zu streuen, so konnten die Eltern ja
    losgehen und ihr ein Körnchen Salz auf den
    Hintern streuen, vielleicht würden sie sie
    wieder einfangen. Ein schwerer Schlag war
    das, der Gervaise abermals zerschmetterte;
    denn trotz ihrer Schlappheit fühlte sie

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