Der Todschlaeger
sie schien dieses Ende eines langen
Verhältnisses, das sich langsam in
gegenseitigem Überdruß dahingeschleppt und
aufgelöst hatte, nicht gemerkt zu haben. Für
sie war es eine Fron weniger. Sogar die
Beziehungen zwischen Lantier und Virginie
ließen sie völlig kalt, so große Gleichgültigkeit
empfand sie für alle diese Dummheiten, über
die sie früher so sehr getobt hatte. Sie hätte
ihnen die Kerze gehalten, wenn sie es gewollt
hätten. Jedermann wußte jetzt genau Bescheid
über die Angelegenheit, der Hutmacher und
die Süßwarenhändlerin führten einen schönen
Lebenswandel. Es war aber auch zu bequem
für sie; Poisson, dieser Hahnrei, hatte alle zwei
Tage Nachtdienst, bei dem er auf den
menschenleeren Bürgersteigen vor Kälte
bibberte, während sich seine Frau und der
Nachbar zu Hause die Füße warm hielten. Oh,
sie beeilten sich nicht, sie hörten seine Stiefel
langsam am Laden entlang auf der dunklen
und leeren Straße hallen, ohne sich deshalb mit
ihren Nasen aus der Bettdecke hervorzuwagen.
Ein Polizist kennt nur seine Pflicht, nicht
wahr? Und sie blieben seelenruhig bis zum
Tagesanbruch liegen und beschädigten ihm
sein Eigentum, während dieser strenge Mann
über das Eigentum anderer wachte. Das ganze
Viertel La Goutted'Or ulkte über diese schöne
Posse. Man fand es drollig, daß der Obrigkeit
Hörner aufgesetzt wurden. Im übrigen hatte
Lantier diesen Winkel erobert. Der Laden und
die Ladeninhaberin gehörten zusammen. Er
hatte gerade eine Wäscherin verspeist; jetzt
knabberte er an einer Süßwarenhändlerin; und
wenn
er
sich
nacheinander
Kurzwarenhändlerinnen,
Papierwarenhändlerinnen, Putzmacherinnen
einrichten würde, seine Kinnladen waren breit
genug, um sie zu verschlingen.
Nein, niemals hat man einen Mann gesehen,
der sich so im Zucker wälzte. Lantier hatte
sich seine Sache hübsch ausgesucht, als er
Virginie zu einem Handel mit Leckereien
geraten hatte. Er war zu sehr Provenzale, als
daß er nicht für Süßigkeiten schwärmte; das
heißt, er hätte von Plätzchen, Gummikugeln,
Zuckerzeug und Schokolade leben können.
Vor allem das Zuckerzeug, das er »gezuckerte
Mandeln« nannte, brachte ihm leichten
Schaum auf die Lippen, so sehr kitzelte es ihm
die Gurgel. Seit einem Jahr lebte er nur noch
von Bonbons. Er zog die Schubladen auf und
fraß sich voll, wenn Virginie ihn bat, auf den
Laden aufzupassen. Oft nahm er plaudernd in
Anwesenheit von fünf oder sechs Personen
den Deckel eines Bonbonglases auf dem
Ladentisch ab, steckte die Hand hinein,
knabberte irgend etwas; das Glas blieb offen
und wurde leer. Man beachtete das gar nicht
mehr, eine Sucht, wie er sagte. Ferner hatte er
sich eine ständige Erkältung ausgedacht, eine
Reizung der Kehle, die er lindern mußte, wie
er sagte. Er arbeitete noch immer nicht, hatte
immer bedeutendere Geschäfte in Aussicht;
zur Zeit knobelte er eine prächtige Erfindung
aus, den Regenschirmhut, einen Hut, der sich
bei den ersten Tropfen eines Platzregens auf
dem Kopf in eine Musspritze verwandelte; und
er versprach Poisson die Hälfte vom Gewinn,
er borgte sich sogar Zwanzigfrancsstücke von
ihm für die Versuche. Unterdessen zerschmolz
der Laden auf seiner Zunge; alle Waren gingen
drauf, sogar die Schokoladenzigarren und die
Pfeifen aus rotem Karamelzucker. Wenn er
vor Zuckerwerk platzte und sich, von
Zärtlichkeit erfaßt, in einer Ecke eine letzte
Schleckerei mit der Besitzerin leistete, fand
diese ihn ganz zuckrig, seine Lippen wie
Pralinen. Ein Mann, den zu küssen ungemein
nett war! Er wurde tatsächlich ganz zu Honig.
Die Boches sagte, es würde genügen, wenn er
den Finger in seinen Kaifee tunkte, um einen
wahren Sirup daraus zu machen.
Gerührt durch diese ständigen Naschereien,
zeigte sich Lantier väterlich zu Gervaise. Er
gab ihr Ratschläge, schalt sie, daß sie die
Arbeit nicht mehr liebe. Zum Teufel! Eine
Frau in ihrem Alter müsse sich zu drehen und
zu wenden verstehen! Und er beschuldigte sie,
immer ein Leckermaul gewesen zu sein. Doch
da man den Menschen hilfreich die Hand
reichen müsse, selbst wenn sie es kaum
verdienten, bemühte er sich, ihr kleine
Arbeiten zu verschaffen. So hatte er Virginie
bewogen, Gervaise einmal in der Woche
kommen zu lassen, um den Laden und die
Zimmer
zu
scheuern;
mit
Schmierseifenwasser, da kannte sie sich aus;
und sie verdiente jedesmal dreißig Sous.
Gervaise kam Sonnabend früh mit
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