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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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einem
    Schweigen wieder an. »Wir schulden dem
    Bäcker vier Francs sieben Sous; das muß
    bezahlt werden ... Madame Gaudron hat ein
    Bügeleisen von uns, das du von ihr
    zurückverlangen wirst ... Heute abend habe ich
    keine Suppe kochen können, aber es ist noch
    Brot übrig, und du kannst dir die Kartoffeln
    warm machen ...«
    Bis zu ihrem letzten Röcheln blieb dieses arme
    Ding das Mütterchen ihrer ganzen Familie.
    Das war jemand, den man bestimmt nicht
    würde ersetzen können! Sie starb, weil sie in
    ihrem Alter die Vernunft einer wahren Mutter
    gehabt hatte und ihre Brust noch zu zart und
    zu eng war, um eine so umfangreiche
    Mutterschaft fassen zu können. Und nur ihr
    Vater, dieses wilde Tier, war daran schuld,
    wenn er diesen Schatz verlor. Hatte er nun
    nicht auch noch die Tochter hingemetzelt,
    nachdem er die Mama mit einem Fußtritt
    umgebracht hatte? Die beiden guten Engel
    würden im Grabe liegen, und ihm würde nichts
    weiter übrigbleiben, als an der Ecke eines
    Prellsteins wie ein Hund zu verrecken.
    Gervaise nahm sich jedoch zusammen, um
    nicht in Schluchzen auszubrechen. Sie streckte
    die Hände aus in dem Verlangen, dem Kind
    Erleichterung zu verschaffen; und da das
    zerfetzte Laken herabglitt, wollte sie es
    glattstreichen und das Bett in Ordnung
    bringen. Da kam der arme kleine Körper der
    Sterbenden zum Vorschein. Ach, Herrgott,
    welch ein Elend und welch ein Jammer! Die
    Steine hätten geweint. Lalie war nackt, mit
    dem Überrest einer Unterjacke statt eines
    Hemdes auf den Schultern; ja, nackt, und zwar
    mit der blutenden und schmerzensreichen
    Nacktheit einer Märtyrerin. Sie hatte kein
    Fleisch mehr, und die Knochen durchbohrten
    die Haut. Auf den Rippen liefen schmale,
    violette, zebraartige Streifen bis zu den
    Schenkeln hinunter, die Striemen der Peitsche,
    die dort scharf eingeprägt waren. Ein
    bleifarbener Fleck lag wie ein Reif um den
    linken Arm, als habe die Backe eines
    Schraubstocks dieses so zarte Glied zermalmt,
    das nicht dicker als ein Streichholz war. Das
    rechte Bein wies einen schlecht zugeheilten
    Riß auf, irgendein schlimmer Hieb, der jeden
    Morgen wieder aufbrach, wenn sie
    umhertrabte, um den Haushalt zu besorgen.
    Von Kopf bis Fuß war sie ein einziger blauer
    Fleck. Oh, dieses Hinmetzeln der Kindheit,
    diese schweren Männerpranken, die dieses
    allerliebste Vögelchen zerschmetterten, dieser
    Greuel an so viel Schwachheit, die unter einem
    derartigen Kreuz röchelte! In den Kirchen
    betet man gegeißelte heilige Frauen an, deren
    Nacktheit weniger rein ist.
    Gervaise hatte sich erneut niedergehockt und
    dachte nicht mehr daran, die Decke
    hochzuziehen, war umgeworfen vom Anblick
    dieses erbarmungswürdigen Nichts, das flach
    hingestreckt auf dem Boden des Bettes lag;
    und ihre bebenden Lippen suchten nach
    Gebeten.
    »Madame Coupeau«, flüsterte die Kleine, »ich
    bitte Sie ...« Mit ihren zu kurzen Armen suchte
    sie das Laken glattzustreichen, war ganz
    keusch, schämte sich für ihren Vater.
    Stumpfsinnig, die Augen auf diesen Kadaver
    gerichtet, den er geschaffen hatte, rollte Bijard
    noch immer den Kopf hin und her mit der
    langsamer gewordenen Bewegung eines
    Tieres, das gereizt wird.
    Und als Gervaise Lalie wieder zugedeckt
    hatte, konnte sie nicht länger dableiben. Die
    Sterbende wurde immer schwächer, sie sprach
    nicht mehr und hatte nur noch ihren Blick,
    ihren früheren dunklen Blick eines
    schicksalergebenen und nachdenklichen
    kleinen Mädchens, den sie auf ihre beiden
    Kinder heftete, die dabei waren, ihre Bilder
    auszuschneiden. Die Stube füllte sich mit
    Schatten; Bijard schlief seine Kneiptour im
    Stumpfsinn dieses Todesringens aus. Nein,
    nein, das Leben war doch zu erbärmlich! Ach,
    was für eine dreckige Sache, ach, was für eine
    dreckige Sache! Und Gervaise ging fort, stieg
    die Treppe hinunter, ohne es zu wissen,
    kopflos, fühlte sich so angekotzt, daß sie sich
    gern unter die Räder eines Omnibusses
    hingestreckt hätte, um dem ein Ende zu
    machen.
    Während sie noch lief und gegen das
    verdammte Schicksal murrte, sah sie sich vor
    der Tür des Meisters, bei dem Coupeau
    angeblich arbeitete. Ihre Beine hatten sie dort
    hingeführt, ihr Magen stimmte sein Lied
    wieder an, das Klagelied des Hungers in
    neunzig Strophen, ein Klagelied, das sie
    auswendig kannte. Wenn sie Coupeau beim
    Herauskommen erwischte, würde sie auf diese
    Weise das Geld an sich nehmen und
    Lebensmittel kaufen. Eine knappe Stunde
    Wartezeit höchstens, das

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