Der Todschlaeger
schlage ich noch was heraus.«
Verfolgt von diesem höllischen Schandmaul,
schritt Gervaise schnell aus. Dann befand sie
sich allein inmitten der Menge, sie
verlangsamte den Schritt. Sie war fest
entschlossen. Da sie zwischen Stehlen und
dem anderen zu wählen hatte, wollte sie lieber
das andere tun, weil sie dann wenigstens
niemandem ein Unrecht zufügen würde. Sie
würde immer nur über ihre Habe verfügen.
Freilich, anständig war es kaum; aber das
Anständige und das Nichtanständige
vermengten sich jetzt in ihrem Bregen; wenn
man vor Hunger verreckt, redet man nicht
soviel über Philosophie, man ißt das Brot, das
sich bietet. Sie war bis zur Chaussée de
Clignancourt hinaufgegangen. Die Nacht
wollte und wollte nicht anbrechen. Da ging sie
unterdessen die Boulevards entlang wie eine
Dame, die frische Luft schöpft, bevor sie zum
Essen heimkehrt.
Dieses Viertel, in dem sie Scham empfand, so
sehr verschönerte es sich, öffnete sich nun
nach allen Seiten hin in die freie Luft. Der aus
dem Herzen von Paris heraufkommende
Boulevard de Magenta und der ins Land
hinausgehende Boulevard Ornano hatten das
Viertel an der ehemaligen Zollschranke
durchbohrt, ein gewaltiger Abbruch von
Häusern, zwei weite, vom Gips noch weiße
Avenuen, die an ihren Flanken die Rue du
FaubourgPoissonnière und die Rue des
Poissonniers behielten, deren abgekantete,
verstümmelte, wie düstere Gedärme
gewundene Enden sich vorschoben. Seit
langem schon hatte der Abriß der Stadtmauer
die äußeren Boulevards verbreitert mit den
seitlichen Fahrbahnen und dem Wallweg in
der Mitte für die Fußgänger, der mit vier
Reihen kleiner Platanen bepflanzt war. Es war
eine unermeßliche Kreuzung, die in der Ferne
durch endlose Straßen, die von
Menschenmengen wimmelten und im
verlorenen Chaos der Bauten ertranken, auf
den Horizont mündete. Aber zwischen den
hohen neuen Häusern blieben noch sehr viele
wacklige alte Gemäuer stehen; zwischen den
gemeißelten Fassaden höhlten sich schwarze
Einbuchtungen aus, gähnten Hundelöcher, die
die Lumpen an ihren Fenstern zur Schau
stellten. Unter dem wachsenden Luxus von
Paris brach das Elend der Vorstadt durch,
verdreckte diesen Bauplatz einer so übereilt
errichteten neuen Stadt.
Im Gewühl des breiten Bürgersteiges längs der
kleinen Platanen verloren, fühlte sich Gervaise
einsam und verlassen. Diese schmalen
Durchblicke auf die Avenuen dort hinten
leerten ihr den Magen noch mehr; wenn man
bedenkt, daß in diesem Menschenstrom, in
dem es doch wohlhabende Leute gab, nicht ein
Christ ihre Lage ahnte und ihr heimlich zehn
Sous in die Hand drückte! Ja, das war zu
großartig, das war zu schön, es drehte sich ihr
im Kopf, und die Beine rutschten ihr weg
unter dieser maßlosen grauen Himmelsbahn,
die über einen so weiten Raum gespannt war.
Die Dämmerung hatte jene schmutziggelbe
Farbe der Pariser Dämmerung, eine Farbe, die
Lust erweckt, auf der Stelle zu sterben, so
häßlich erscheint das Leben auf den Straßen.
Die Stunde wurde zwielichtig, die Fernen
trübten sich mit einer schmutzigen
Farbtönung. Gervaise, die schon müde
geworden war, geriet gerade mitten in die
Heimkehr der Arbeiter hinein. Um diese Zeit
waren die Damen mit Hut und die gut
gekleideten Herren, die die neuen Häuser
bewohnten, ertrunken inmitten des Volkes, der
Prozessionen von Männern und Frauen, die
noch bleich aussahen von der verdorbenen
Luft der Werkstätten. Der Boulevard de
Magenta
und
die
Rue
du
FaubourgPoissonnière ließen ganze Scharen
von Arbeitern los, die durch die Steigung
außer Atem waren. Im gedämpfteren Rollen
der Omnibusse und Droschken, zwischen den
Rollwagen, den Möbelwagen, den Lastwagen,
die leer und im Galopp heimfuhren, bedeckte
ein immer mehr anwachsendes Gewimmel von
Kitteln und Arbeitsjacken den Fahrdamm. Die
Dienstmänner kamen zurück, ihre Tragekörbe
auf den Schultern. Zwei Arbeiter, die eilig
dahingingen, machten Seite an Seite große
Schritte, wobei sie sehr laut und gestikulierend
sprachen, ohne sich anzusehen; andere, in
Überzieher und Mütze, schritten allein mit
gesenkter Nase an der Bürgersteigkante dahin;
andere kamen zu fünft oder sechst daher,
gingen hintereinander und wechselten kein
Wort, die Hände in den Taschen, die Augen
blaß. Einige behielten ihre ausgegangenen
Pfeifen zwischen den Zähnen. Maurer in einer
Mietskutsche, die sie zu viert gechartert hatten
und auf der ihre
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