Der Todschlaeger
Ihr
war ganz weinerlich ums Herz, denn sie wollte
nicht zugeben, daß sie seit gestern Kohldampf
schob. Außerdem fühlte sie, wie ihre Beine
schwach wurden, sie bekam Angst, in Tränen
zu zerfließen, und stammelte abermals: »Es
wäre so nett von Ihnen! – Sie können ja nicht
wissen ... Ja, soweit ist es mit mir gekommen,
mein Gott, soweit ist es mit mir gekommen ...«
Da kniffen die Lorilleux die Lippen zusammen
und tauschten unmerklich einen Blick. Jetzt
bettelte Hinkebein! Na ja, der Sturz war
vollkommen. Das mochten sie schon gar nicht!
Hätten sie das gewußt, so hätten sie sich
verbarrikadiert, weil man bei Bettlern immer
auf der Hut sein muß, bei Leuten, die unter
Vorwänden in die Wohnungen eindringen und
unter Mitgehenlassen wertvoller Gegenstände
abhauen. Um so mehr, als es bei ihnen genug
zu stehlen gab; man konnte überall die Finger
hinstrecken und für dreißig bis vierzig Francs
mitnehmen, indem man bloß die Faust schloß.
Sie waren schon öfters mißtrauisch gewesen,
wenn sie Gervaises komisches Gesicht
ansahen, mit dem sie sich vor dem Gold
aufpflanzte. Diesmal würden sie auf sie
aufpassen, das wäre ja noch schöner! Und als
sie mit den Füßen auf dem Lattenrost noch
näherkam, rief der Kettenmacher ihr barsch zu,
ohne weiter auf ihre Bitte einzugehen:
»Hören Sie mal, geben Sie doch ein bißchen
acht! Sie werden noch Goldstückchen an Ihren
Sohlen mitnehmen ... Wahrhaftig, man könnte
meinen, daß Sie Fett drunter haben, damit es
klebt.«
Gervaise wich langsam zurück. Sie hatte sich
einen Augenblick auf ein Regal gestützt, und
da sie sah, daß Frau Lorilleux ihre Hände
musterte, öffnete sie sie weit, zeigte sie vor
und sagte mit ihrer kraftlosen Stimme, ohne
sich zu ärgern, wie eine tief gesunkene Frau,
die sich alles gefallen läßt:
»Ich habe nichts weggenommen, Sie können
nachsehen.« Und sie ging davon, weil der
kräftige Geruch der Kohlsuppe und die
angenehme Wärme der Werkstatt sie zu krank
machten.
Oh, die Lorilleux hielten sie wahrlich nicht
zurück! Glückliche Reise! Das müßte mit dem
Teufel zugehen, wenn sie ihr noch mal
aufmachten! Sie hatten ihr Gesicht zur Genüge
gesehen, sie wollten das Elend anderer nicht
bei sich haben, wenn dieses Elend verdient
war. Und sie gaben sich einem behäbigen
egoistischen Behagen hin, da sie sich
wohlhabend fühlten, hübsch im Warmen, mit
der Aussicht auf eine famose Suppe. Boche
machte sich ebenfalls breit und blies seine
Backen noch mehr auf, so daß sein Lachen
unanständig wurde. Sie erachteten sich alle als
gehörig gerächt für Hinkebeins früheres
Benehmen, für den blauen Laden, für die
Fressereien und alles übrige. Es war zu gut
gelungen, das bewies, wohin die Liebe zum
Tafeln führte. Hinweg mit den
Feinschmeckerinnen, den Faulenzerinnen und
den schamlosen Weibern!
»Ist das eine Art und Weise! So was kommt
her und bettelt um zehn Sous!« rief Frau
Lorilleux hinter Gervaises Rücken. »Ja, hat
sich was, ich werde ihr gleich zehn Sous
leihen, damit sie ihr Schnäpschen trinken
geht!«
Schwerfällig, die Schultern beugend, schleppte
Gervaise ihre Latschen über den Korridor. Als
sie an ihrer Tür war, trat sie nicht ein, ihre
Stube machte ihr angst. Lieber laufen, da
würde ihr wärmer sein, und sie würde sich
gedulden. Im Vorübergehen steckte sie den
Kopf in Vater Brus Nische unter der Treppe;
auch so einer, der einen schönen Appetit haben
mußte, denn er aß seit drei Tagen nur in
Gedanken zu Mittag und zu Abend; aber er
war nicht da, nur sein Loch war vorhanden,
und sie empfand Neid bei der Vorstellung, daß
man ihn irgendwo eingeladen haben könnte.
Als sie dann bei den Bijards anlangte, hörte sie
Gejammer; sie trat ein, weil der Schlüssel stets
im Schloß steckte.
»Was gibt es denn?« fragte sie.
Die Stube war sehr sauber. Man sah genau,
daß Lalie noch am Morgen ausgefegt und die
Sachen aufgeräumt hatte. Das Elend mochte
noch so sehr hereinwehen, die alten Klamotten
wegtragen und seinen Haufen Unrat
ausbreiten, Lalie kam hinterher und scheuerte
alles und verlieh den Dingen ein nettes
Aussehen. Wenn es auch nicht üppig zuging,
so sah man doch, daß hier eine gute Hausfrau
waltete. An diesem Tage hatten ihre beiden
Kinder, Henriette und Jules, alte Bilder
gefunden, die sie ruhig in einer Ecke
ausschnitten. Aber Gervaise war sehr
überrascht, Lalie auf ihrem schmalen Gurtbett
liegend anzutreffen, das Laken
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