Der Todschlaeger
über funkelnd
wieder auf, zogen sich abermals lang dahin
und durchschnitten die Nacht bis zu der
verlorenen Finsternis des Horizonts. Ein
starkes Wehen strich vorüber, das weiter
gewordene Viertel rammte Schnuren von
Flämmchen unter den unermeßlichen und
mondlosen Himmel ein. Es war die Stunde, da
von einem Ende der Boulevards zum anderen
die Weinschenken, die Tanzkneipen, die
Kaschemmen hintereinander im Jux der ersten
Lagen und des ersten Chahuts fröhlich
aufflammten. Der Lohn der langen vierzehn
Arbeitstage füllte den Bürgersteig mit einem
Gedränge von Tagedieben, die eine Kneiptour
unternahmen. Es roch in der Luft nach
Flottmachen, einem verdammten Flottmachen,
aber nett noch, ein beginnender Schwips,
nichts weiter. Hinten in den Garküchen stopfte
man sich voll; durch alle erleuchteten
Scheiben sah man Leute mit vollem Munde
essen, die lachten, ohne sich auch nur die
Mühe zu machen, zu schlucken. In den
Weinschenken ließen sich grölend und
gestikulierend schon Trunkenbolde nieder.
Das Getöse eines himmlischen Donnerwetters
stieg auf, kreischende Stimmen, schleimige
Stimmen, inmitten des ständigen Trommeins
der Füße auf dem Bürgersteig, »Hör mal!
Kommst du mit spachteln? – Komm her, du
Faultier, ich spendiere einen Schoppen Wein
aus der Flasche ... Guck mal, da ist Pauline!
Ach nein, da werden wir uns aber tüchtig
kugeln!« Die Türen klappten und ließen
Weingerüche und Windstöße eines Pistons
heraus. Man stand Schlange vor Vater
Colombes »Totschläger«, der wie eine
Kathedrale zum Hochamt erleuchtet war; und
– Himmelsakrament! – man hätte meinen
können, es sei eine richtige Zeremonie, denn
prima Kerle sangen da drin mit Mienen wie
Sänger im Kirchenchor, hatten die Backen
aufgeblasen und den Wanst gerundet. Man
feierte die Heilige Löhnung, jawohl, eine recht
liebenswürdige Heilige, die wohl die Kasse im
Paradies verwalten muß. Wenn allerdings die
kleinen Rentiers, die ihre Gattinnen
spazierenführten, sahen, mit welchem
Schwung es losging, so sagten sie immer
wieder kopfschüttelnd, es gäbe in dieser Nacht
doch verflucht viel besoffene Männer in Paris.
Und die Nacht war sehr finster, tot und eisig
über diesem Radau und wurde an den vier
Himmelspunkten einzig und allein von den
Feuerzeilen der Boulevards durchbohrt.
Vor dem »Totschläger« aufgepflanzt, dachte
Gervaise nach. Hätte sie zwei Sous gehabt, so
wäre sie hineingegangen, um ihr Schnäpschen
zu trinken. Vielleicht hätte ein Schnäpschen
ihr den Hunger genommen. Ach, was hatte sie
schon an Schnäpschen getrunken! Das schien
ihr trotz allem doch recht gut zu sein. Und von
weitem betrachtete sie die Besaufmaschine,
fühlte dabei, daß ihr Unglück von dorther
rühre, und träumte davon, sich an dem Tage,
da sie was haben würde, mit Branntwein den
Rest zu geben. Aber ein Schauer fuhr ihr ins
Haar, sie sah, daß es stockfinstere Nacht war.
Vorwärts, die günstige Stunde nahte. Es war
der Zeitpunkt, beherzt zu sein und sich
liebenswürdig zu zeigen, wenn sie nicht
inmitten der allgemeinen Freude verrecken
wollte. Um so mehr, als es ihr nicht gerade den
Bauch füllte, wenn sie zusah, wie die anderen
sich vollschlugen. Sie verlangsamte den
Schritt noch, schaute sich um. Unter den
Bäumen kroch dichteres Dunkel umher. Es
kamen wenig Menschen vorbei, eilige Leute,
die rasch den Boulevard überquerten. Und auf
diesem düsteren und menschenleeren breiten
Bürgersteig, wo das fröhliche Treiben der
angrenzenden Fahrdämme zum Sterben kam,
standen Frauen und warteten. Sie verharrten
lange Augenblicke unbeweglich, geduldig,
steif wie die dürftigen kleinen Platanen; dann
bewegten sie sich langsam, schleppten ihre
Latschen über den gefrorenen Boden, machten
zehn Schritte und blieben erneut stehen,
festgeklebt an der Erde. Da war eine mit einem
gewaltigen Rumpf und Insektenarmen und
beinen, die überquoll und sich vorwärts wälzte
in einem schwarzen Seidenfetzen, mit einem
gelben Foulardtuch auf dem Kopf; da war eine
andere, eine große Dürre mit bloßem Kopf, die
eine Dienstmädchenschürze trug; und noch
andere, übertünchte Alte, sehr schmutzige
Junge, so schmutzig, so ärmlich, daß ein
Lumpensammler sie nicht aufgelesen hätte.
Gervaise wußte jedoch nicht Bescheid und
bemühte sich zu lernen, indem sie es machte
wie sie. Eine Erregung wie bei einem kleinen
Mädchen schnürte ihr die Kehle zu; sie fühlte
nicht, ob sie
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