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Der Todschlaeger

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Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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Vergeltung, die Faulheit und das
    Herumsumpfen, empor, die beide erwachten.
    O ja, Gervaise hatte ihr Tagewerk beendet! Sie
    war abgekämpfter als dieses ganze Volk von
    Arbeitern, deren Vorüberkommen sie eben
    durchgerüttelt hatte. Sie konnte sich hier
    hinlegen und verrecken, denn die Arbeit wollte
    sie nicht mehr haben, und sie hatte sich in
    ihrem Dasein genug abgemüht, um sagen zu
    können: »Wer ist dran? Ich, ich habe die Nase
    voll!« Alle Welt aß zu dieser Stunde. Das war
    das Ende, die Sonne hatte ihre Kerze
    ausgepustet, die Nacht würde lang werden.
    Mein Gott, sich behaglich ausstrecken und
    nicht mehr aufstehen, denken, daß man sein
    Werkzeug für immer verstaut hat und daß man
    ewig faulenzen wird! Das ist doch schön,
    nachdem man sich zwanzig Jahre lang
    geschunden hat! Und Gervaise dachte bei den
    Krämpfen, die ihr den Magen auswrangen,
    unwillkürlich an die Festtage, an die
    Fressereien und die Spaße ihres Lebens.
    Besonders einmal, bei einer Hundekälte, an
    einem Donnerstag um Mittfasten, hatte sie
    ganz schön flottgemacht. Damals war sie sehr
    nett, blond und frisch gewesen. Ihr Waschhaus
    in der Rue Neuve de la Goutted'Or hatte sie
    trotz ihres Beines zur Königin ernannt. Darauf
    war man in grün geschmückten Wagen
    inmitten der feinen Leute, die schön neugierig
    nach ihr hinguckten, auf den Boulevards
    spazierengefahren. Herren setzten ihre Kneifer
    auf wie bei einer richtigen Königin. Am
    Abend hatte man dann ein Schlemmermahl
    aufgezogen, daß sich die Tische bogen, und
    hatte bis zum Tagesanbruch geschwoft.
    Königin, ja, Königin! Mit einer Krone und
    einer Schärpe, vierundzwanzig Stunden lang,
    zweimal rings ums Zifferblatt! Und
    schwerfällig geworden, schaute sie bei den
    Martern ihres Hungers zu Boden, als suche sie
    die Gosse, in die sie ihre gestürzte Majestät
    hatte fallen lassen.
    Sie sah wieder hoch. Sie befand sich den
    Schlachthäusern gegenüber, die abgerissen
    wurden; die aufgeschlitzte Fassade ließ
    finstere, stinkende Höfe sehen, die noch feucht
    waren von Blut. Und als sie den Boulevard
    wieder hinabgegangen war, sah sie auch das
    Hospital Lariboisière mit seiner großen,
    grauen Mauer, über der sich die düsteren, von
    regelmäßigen Fenstern durchbohrten Flügel
    fächerförmig auseinanderfalteten; eine Tür in
    der Wand setzte das Viertel in Schrecken, die
    Totentür, deren festes Eichenholz ohne jede
    Ritze die Strenge und das Schweigen eines
    Grabsteins an sich hatte. Da eilte sie weiter
    weg, um zu entkommen, sie ging bis zur
    Eisenbahnbrücke hinunter. Die hohen
    Geländer aus verbolztem starkem Eisenblech
    benahmen ihr die Sicht auf die Geleise; sie
    unterschied am lichtvollen Horizont von Paris
    lediglich die verbreiterte Ecke des Bahnhofs,
    ein weites, vor Kohlenstaub schwarzes Dach;
    in diesem weiten, hellen Raum hörte sie Pfiffe
    von Lokomotiven, die rhythmischen Stöße der
    Drehscheiben, eine ganze riesenhafte und
    verborgene Betriebsamkeit. Dann fuhr ein Zug
    vorüber, der Paris verließ und mit seinem
    keuchenden Atem und seinem allmählich
    anschwellenden Rollen herankam. Und sie
    erblickte von diesem Zug nur eine weiße
    Rauchwolke, einen jähen Qualm, der über das
    Geländer flutete und sich verlor. Aber die
    Brücke hatte gebebt, und sie selber verharrte
    im Schwung dieser Abfahrt unter Volldampf.
    Sie wandte sich um, als wolle sie der
    unsichtbaren Lokomotive nachschauen, deren
    Grollen erstarb. In dieser Richtung ahnte sie
    das Land, den freien Himmel, im Hintergrund
    eines Durchbruchs mit hohen Häusern rechts
    und links, die vereinzelt, ohne Ordnung
    hingepflanzt waren und Fassaden darboten,
    unverputzte Mauern, Mauern, die mit riesigen
    Reklamen bemalt und mit demselben
    gelblichen Farbton durch den Ruß der
    Maschinen verschmutzt waren. Ach, wenn sie
    so hätte abreisen, dort unten hinfahren können,
    heraus aus diesen Häusern des Elends und des
    Leidens! Vielleicht hätte sie wieder neu zu
    leben begonnen. Dann drehte sie sich wieder
    um und las stumpfsinnig die auf das
    Eisenblech geklebten Plakate. Es waren in
    allen Farben welche vorhanden. Ein kleines
    von hübschem Blau versprach fünfzig Francs
    Belohnung für eine entlaufene Hündin. So ein
    Tier, das mußte doch geliebt worden sein!
    Langsam nahm Gervaise ihren Marsch wieder
    auf. In dem Nebel aus rauchigem Dunkel, der
    herabsank, wurden die Gaslaternen
    angezündet; und diese nach und nach
    ertränkten und schwarz gewordenen langen
    Avenuen tauchten über und

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