Der Todschlaeger
Vergeltung, die Faulheit und das
Herumsumpfen, empor, die beide erwachten.
O ja, Gervaise hatte ihr Tagewerk beendet! Sie
war abgekämpfter als dieses ganze Volk von
Arbeitern, deren Vorüberkommen sie eben
durchgerüttelt hatte. Sie konnte sich hier
hinlegen und verrecken, denn die Arbeit wollte
sie nicht mehr haben, und sie hatte sich in
ihrem Dasein genug abgemüht, um sagen zu
können: »Wer ist dran? Ich, ich habe die Nase
voll!« Alle Welt aß zu dieser Stunde. Das war
das Ende, die Sonne hatte ihre Kerze
ausgepustet, die Nacht würde lang werden.
Mein Gott, sich behaglich ausstrecken und
nicht mehr aufstehen, denken, daß man sein
Werkzeug für immer verstaut hat und daß man
ewig faulenzen wird! Das ist doch schön,
nachdem man sich zwanzig Jahre lang
geschunden hat! Und Gervaise dachte bei den
Krämpfen, die ihr den Magen auswrangen,
unwillkürlich an die Festtage, an die
Fressereien und die Spaße ihres Lebens.
Besonders einmal, bei einer Hundekälte, an
einem Donnerstag um Mittfasten, hatte sie
ganz schön flottgemacht. Damals war sie sehr
nett, blond und frisch gewesen. Ihr Waschhaus
in der Rue Neuve de la Goutted'Or hatte sie
trotz ihres Beines zur Königin ernannt. Darauf
war man in grün geschmückten Wagen
inmitten der feinen Leute, die schön neugierig
nach ihr hinguckten, auf den Boulevards
spazierengefahren. Herren setzten ihre Kneifer
auf wie bei einer richtigen Königin. Am
Abend hatte man dann ein Schlemmermahl
aufgezogen, daß sich die Tische bogen, und
hatte bis zum Tagesanbruch geschwoft.
Königin, ja, Königin! Mit einer Krone und
einer Schärpe, vierundzwanzig Stunden lang,
zweimal rings ums Zifferblatt! Und
schwerfällig geworden, schaute sie bei den
Martern ihres Hungers zu Boden, als suche sie
die Gosse, in die sie ihre gestürzte Majestät
hatte fallen lassen.
Sie sah wieder hoch. Sie befand sich den
Schlachthäusern gegenüber, die abgerissen
wurden; die aufgeschlitzte Fassade ließ
finstere, stinkende Höfe sehen, die noch feucht
waren von Blut. Und als sie den Boulevard
wieder hinabgegangen war, sah sie auch das
Hospital Lariboisière mit seiner großen,
grauen Mauer, über der sich die düsteren, von
regelmäßigen Fenstern durchbohrten Flügel
fächerförmig auseinanderfalteten; eine Tür in
der Wand setzte das Viertel in Schrecken, die
Totentür, deren festes Eichenholz ohne jede
Ritze die Strenge und das Schweigen eines
Grabsteins an sich hatte. Da eilte sie weiter
weg, um zu entkommen, sie ging bis zur
Eisenbahnbrücke hinunter. Die hohen
Geländer aus verbolztem starkem Eisenblech
benahmen ihr die Sicht auf die Geleise; sie
unterschied am lichtvollen Horizont von Paris
lediglich die verbreiterte Ecke des Bahnhofs,
ein weites, vor Kohlenstaub schwarzes Dach;
in diesem weiten, hellen Raum hörte sie Pfiffe
von Lokomotiven, die rhythmischen Stöße der
Drehscheiben, eine ganze riesenhafte und
verborgene Betriebsamkeit. Dann fuhr ein Zug
vorüber, der Paris verließ und mit seinem
keuchenden Atem und seinem allmählich
anschwellenden Rollen herankam. Und sie
erblickte von diesem Zug nur eine weiße
Rauchwolke, einen jähen Qualm, der über das
Geländer flutete und sich verlor. Aber die
Brücke hatte gebebt, und sie selber verharrte
im Schwung dieser Abfahrt unter Volldampf.
Sie wandte sich um, als wolle sie der
unsichtbaren Lokomotive nachschauen, deren
Grollen erstarb. In dieser Richtung ahnte sie
das Land, den freien Himmel, im Hintergrund
eines Durchbruchs mit hohen Häusern rechts
und links, die vereinzelt, ohne Ordnung
hingepflanzt waren und Fassaden darboten,
unverputzte Mauern, Mauern, die mit riesigen
Reklamen bemalt und mit demselben
gelblichen Farbton durch den Ruß der
Maschinen verschmutzt waren. Ach, wenn sie
so hätte abreisen, dort unten hinfahren können,
heraus aus diesen Häusern des Elends und des
Leidens! Vielleicht hätte sie wieder neu zu
leben begonnen. Dann drehte sie sich wieder
um und las stumpfsinnig die auf das
Eisenblech geklebten Plakate. Es waren in
allen Farben welche vorhanden. Ein kleines
von hübschem Blau versprach fünfzig Francs
Belohnung für eine entlaufene Hündin. So ein
Tier, das mußte doch geliebt worden sein!
Langsam nahm Gervaise ihren Marsch wieder
auf. In dem Nebel aus rauchigem Dunkel, der
herabsank, wurden die Gaslaternen
angezündet; und diese nach und nach
ertränkten und schwarz gewordenen langen
Avenuen tauchten über und
Weitere Kostenlose Bücher