Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
Vom Netzwerk:
Garküchen
    waren geschlossen, das Gaslicht wurde rötlich
    in den Weinschenken, aus denen vor
    Trunkenheit schleimige Stimmen drangen. Der
    Jux schlug um in Streitigkeiten und
    Prügeleien. Ein verteufelt langer, zerlumpter
    Kerl brüllte: »Ich hau dich gleich zusammen,
    numeriere deine Knochen!« Eine Dirne war an
    der Tür einer Tanzkneipe mit ihrem Liebhaber
    aneinander geraten und nannte ihn einen
    dreckigen Flegel und ein krankes Schwein,
    während der Liebhaber immer wieder sagte:
    »Sonst noch was?«, ohne daß ihm etwas
    anderes einfiel. Die Sauferei wehte ein
    Verlangen, sich totzuschlagen, heraus, etwas
    Wildes, das den spärlich gewordenen
    Passanten blasse und zuckende Gesichter
    verlieh. Es entstand eine Schlägerei, ein Säufer
    fiel auf den Rücken, alle viere von sich
    gestreckt, während sein Kumpel, der glaubte,
    ihm sein Fett gegeben zu haben, entfloh,
    wobei er mit seinen derben Schuhen klapperte.
    Scharen grölten schmutzige Lieder,
    Augenblicke tiefer Stille traten ein,
    durchschnitten vom Schluckauf oder dem
    dumpfen Fall von Trunkenbolden. Das
    Flottmachen nach dem Vierzehntagelohn
    endete immer so, seit sechs Stunden floß der
    Wein so heftig, daß er auf den Bürgersteigen
    lustwandelte. Oh, schöne Kotzereien, mitten
    auf dem Pflaster breitgelaufene Fladen von
    Erbrochenem, über die die verspäteten und
    feinfühligen

    Leute

    hinwegzusteigen
    gezwungen waren, um nicht hineinzutreten!
    Wirklich, das Viertel war sauber! Ein Fremder,
    der hier hergekommen wäre und das Viertel
    vor dem morgendlichen Fegen besichtigt hätte,
    würde einen schönen Eindruck von ihm
    mitgenommen haben. Aber um diese Zeit
    waren die Säufer unter sich, und Europa war
    ihnen schnuppe. Himmelsakrament! Die
    Messer fuhren aus den Taschen, und die kleine
    Feier endete im Blut. Frauen schritten schnell
    dahin, und Männer streiften mit Wolfsaugen
    umher, die Nacht wurde undurchdringlich, war
    aufgebläht von Scheußlichkeiten.
    Mit den Beinen schlenkernd, zog Gervaise
    immer noch hinauf und hinunter mit dem
    einzigen Gedanken, unaufhörlich zu laufen.
    Schläfrigkeit überkam sie, sie schlief ein,
    eingewiegt durch das Schaukeln ihres Beins;
    auffahrend schaute sie sich dann um, und sie
    wurde gewahr, daß sie hundert Schritte ohne
    Bewußtsein, wie tot zurückgelegt hatte. Ihre
    Füße, die im Stehen hätten schlafen können,
    weiteten sich in ihren durchlöcherten
    Latschen. Sie hatte keinerlei Gefühl mehr, so
    müde und leer war sie. Der letzte klare
    Gedanke, der sie beschäftigte, war der, daß
    dieses Weibsbild, ihre Tochter, in demselben
    Augenblick vielleicht Austern aß. Darauf
    verwirrte sich alles, sie behielt die Augen
    offen, mußte sich aber zu sehr anstrengen, um
    zu denken. Und das einzige Empfinden, das
    inmitten der Vernichtung ihres Seins in ihr
    fortbestand, war das Empfinden einer
    Hundekälte, einer scharfen und tödlichen
    Kälte, wie sie sie niemals verspürt hatte. Die
    Toten frieren in der Erde bestimmt nicht so.
    Unbeholfen hob sie ein wenig den Kopf und
    bekam einen eisigen Gertenhieb ins Gesicht.
    Es war der Schnee, der sich endlich entschloß,
    vom rauchigen Himmel zu fallen, ein feiner,
    dichter Schnee, den ein leichter Wind wirbelnd
    daherwehte. Seit drei Tagen wartete man auf
    ihn. Er fiel im richtigen Augenblick.
    Da schritt Gervaise, die bei diesem ersten
    Windstoß aufgewacht war, rascher aus.
    Männer liefen, beeilten sich, nach Hause zu
    kommen mit bereits weißen Schultern. Und als
    sie einen sah, der langsam unter den Bäumen
    daherkam, trat sie näher, sagte sie abermals:
    »Mein Herr, hören Sie doch ...«
    Der Mann war stehengeblieben. Aber er schien
    nichts gehört zu haben. Er streckte die Hand
    aus und murmelte mit leiser Stimme:
    »Bitte um eine milde Gabe ...«
    Beide sahen sich an. O mein Gott! Soweit war
    es mit ihnen gekommen, Vater Bru bettelte,
    Frau Coupeau ging auf den Strich! Mit
    offenem Mund standen sie einander
    gegenüber. Jetzt konnten sie sich die Hand
    reichen. Den ganzen Abend war der alte
    Arbeiter umhergestreift und hatte es nicht
    gewagt, die Leute anzusprechen; und der erste
    Mensch, den er anhielt, war ein Hungerleider
    wie er. Herrgott, war das nicht ein Jammer?
    Fünfzig Jahre gearbeitet zu haben und betteln!
    Eine der tüchtigsten Wäscherinnen der Rue de
    la Goutted'Or gewesen zu sein und am Rande
    der Gosse enden! Sie sahen sich immer noch
    an. Dann gingen sie, ohne irgend etwas
    zueinander zu sagen, jeder in seiner Richtung
    davon in dem

Weitere Kostenlose Bücher