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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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sich schämte, sie handelte in
    einem häßlichen Traum. Eine Viertelstunde
    lang stand sie kerzengerade da.
    Männer strichen vorüber, ohne den Kopf zu
    wenden. Da bewegte sie sich nun auch; sie
    wagte einen Mann anzureden, der die Hände in
    den Taschen hatte und pfiff, und sie murmelte
    mit erstickter Stimme:
    »Mein Herr, hören Sie doch ...«
    Der Mann sah sie von der Seite an und ging
    lauter pfeifend davon.
    Gervaise wurde kühner. Sie vergaß sich bei
    der Gier dieser Jagd und stürzte mit leerem
    Bauch erbittert hinter ihrem Abendessen her,
    das stets davonlief. Lange stapfte sie umher
    und wußte die Zeit und den Weg nicht. Rings
    um sie wanderten die stummen und schwarzen
    Frauen unter den Bäumen, sperrten ihren
    Marsch in das regelmäßige Hin und Her von
    Tieren im Käfig ein. Sie kamen aus dem
    Dunkel mit der verschwommenen
    Langsamkeit von Gespenstern; sie gingen ins
    Schlaglicht einer Gaslaterne hinüber, in dem
    ihre fahle Maske deutlich auftauchte; und
    wieder vom Dunkel erfaßt, ertranken sie
    abermals, schaukelten dabei den weißen
    Streifen ihres Unterrocks, fanden den
    erschauernden Zauber der Finsternis des
    Bürgersteiges wieder. Männer ließen sich
    anhalten, plauderten zum Jux, brachen
    spaßend wieder auf. Andere entfernten sich
    unauffällig in zehn Schritt Abstand hinter einer
    Frau. Es gab heftiges Gemurmel, Streitigkeiten
    mit unterdrückter Stimme, wütende
    Feilschereien, die mit einem Schlag in tiefes
    Schweigen übergingen. Und Gervaise sah, so
    weit sie auch vordrang, diese weiblichen
    Wachtposten in Abständen in der Nacht
    stehen, als wären von einem Ende der äußeren
    Boulevards zum anderen Frauen hingepflanzt.
    In zwanzig Schritt Entfernung von einer
    anderen gewahrte sie immer eine andere. Die
    lange Reihe verlor sich. Ganz Paris war
    bewacht. Sie, die verschmäht wurde, geriet in
    Wut, wechselte den Platz und ging jetzt von
    der Chaussée de Clignancourt zum Boulevard
    de la Chapelle.
    »Mein Herr, hören Sie doch ...«
    Aber die Männer liefen vorbei. Sie ging von
    den Schlachthäusern weg, deren Trümmer
    nach Blut stanken. Sie schenkte dem
    geschlossenen und zwielichtigen ehemaligen
    Hotel Boncœur einen Blick. Sie ging am
    Hospital Lariboisière vorüber und zählte längs
    der Fassaden mechanisch die erleuchteten
    Fenster, die wie Nachtlampen bei einem
    Sterbenden mit blassem und ruhigem Schein
    brannten. Sie überquerte die Eisenbahnbrücke
    im Schwingen der Züge, die grollten und die
    Luft mit dem verzweifelten Schrei ihrer
    Pfeifen zerrissen. Oh, wie traurig machte die
    Nacht alle diese Dinge! Dann kehrte sie um,
    sie füllte sich die Augen mit denselben
    Häusern, mit dem stets gleichen
    Vorüberziehen dieses Stückchens Avenue; und
    dies zehnmal, zwanzigmal hintereinander,
    ohne Unterbrechung, ohne eine Minute Rast
    auf einer Bank. Nein, niemand wollte sie
    haben. Ihre Schande schien ihr durch dieses
    Verschmähtwerden noch zu wachsen. Sie ging
    abermals zum Hospital hinunter, sie ging
    wieder zu den Schlachthäusern hinauf. Das
    war ihr letzter Spaziergang, von den blutigen
    Höfen, wo totgeschlagen wurde, zu den fahlen
    Sälen, wo der Tod die Menschen in den Laken
    für jedermann steif werden ließ. Dort hatte
    sich ihr Leben abgespielt.
    »Mein Herr, hören Sie doch ...«
    Und jäh gewahrte sie ihren Schatten auf der
    Erde. Wenn sie sich, einer Gaslaterne näherte,
    zog sich der verschwommene Schatten
    zusammen, und wurde deutlicher, ein
    ungeheurer, gedrungener und grotesker
    Schatten, so rund war er. Das dehnte sich,
    Bauch, Brust, Hüften, und floß und wallte
    zusammen. Sie humpelte so stark, daß der
    Schatten auf dem Boden bei jedem Schritt
    einen Purzelbaum schoß, eine richtige
    Kasperpuppe! Wenn sie sich dann entfernte,
    wuchs die Kasperpuppe, wurde riesengroß,
    füllte den Boulevard aus, mit Verbeugungen,
    bei denen sie sich die Nase an Bäumen und
    Häusern einschlug. Mein Gott, wie drollig und
    erschreckend sie war! Nie hatte sie ihre
    Laschheit so gut begriffen. Da konnte sie nicht
    umhin, sich das anzuschauen, und wartete die
    Gaslaternen ab und verfolgte mit den Augen
    den Chahut ihres Schattens. Na, da hatte sie ja
    eine schöne Vettel, die neben ihr ging! Was
    für eine Fratze! Das mußte die Männer ja auf
    der Stelle anlocken. Und sie senkte die
    Stimme, sie wagte nur noch im Rücken der
    Passanten zu stammeln.
    »Mein Herr, hören Sie doch ...«
    Inzwischen mußte es sehr spät geworden sein.
    Das ging schief in dem Viertel. Die

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