Der Todschlaeger
sich schämte, sie handelte in
einem häßlichen Traum. Eine Viertelstunde
lang stand sie kerzengerade da.
Männer strichen vorüber, ohne den Kopf zu
wenden. Da bewegte sie sich nun auch; sie
wagte einen Mann anzureden, der die Hände in
den Taschen hatte und pfiff, und sie murmelte
mit erstickter Stimme:
»Mein Herr, hören Sie doch ...«
Der Mann sah sie von der Seite an und ging
lauter pfeifend davon.
Gervaise wurde kühner. Sie vergaß sich bei
der Gier dieser Jagd und stürzte mit leerem
Bauch erbittert hinter ihrem Abendessen her,
das stets davonlief. Lange stapfte sie umher
und wußte die Zeit und den Weg nicht. Rings
um sie wanderten die stummen und schwarzen
Frauen unter den Bäumen, sperrten ihren
Marsch in das regelmäßige Hin und Her von
Tieren im Käfig ein. Sie kamen aus dem
Dunkel mit der verschwommenen
Langsamkeit von Gespenstern; sie gingen ins
Schlaglicht einer Gaslaterne hinüber, in dem
ihre fahle Maske deutlich auftauchte; und
wieder vom Dunkel erfaßt, ertranken sie
abermals, schaukelten dabei den weißen
Streifen ihres Unterrocks, fanden den
erschauernden Zauber der Finsternis des
Bürgersteiges wieder. Männer ließen sich
anhalten, plauderten zum Jux, brachen
spaßend wieder auf. Andere entfernten sich
unauffällig in zehn Schritt Abstand hinter einer
Frau. Es gab heftiges Gemurmel, Streitigkeiten
mit unterdrückter Stimme, wütende
Feilschereien, die mit einem Schlag in tiefes
Schweigen übergingen. Und Gervaise sah, so
weit sie auch vordrang, diese weiblichen
Wachtposten in Abständen in der Nacht
stehen, als wären von einem Ende der äußeren
Boulevards zum anderen Frauen hingepflanzt.
In zwanzig Schritt Entfernung von einer
anderen gewahrte sie immer eine andere. Die
lange Reihe verlor sich. Ganz Paris war
bewacht. Sie, die verschmäht wurde, geriet in
Wut, wechselte den Platz und ging jetzt von
der Chaussée de Clignancourt zum Boulevard
de la Chapelle.
»Mein Herr, hören Sie doch ...«
Aber die Männer liefen vorbei. Sie ging von
den Schlachthäusern weg, deren Trümmer
nach Blut stanken. Sie schenkte dem
geschlossenen und zwielichtigen ehemaligen
Hotel Boncœur einen Blick. Sie ging am
Hospital Lariboisière vorüber und zählte längs
der Fassaden mechanisch die erleuchteten
Fenster, die wie Nachtlampen bei einem
Sterbenden mit blassem und ruhigem Schein
brannten. Sie überquerte die Eisenbahnbrücke
im Schwingen der Züge, die grollten und die
Luft mit dem verzweifelten Schrei ihrer
Pfeifen zerrissen. Oh, wie traurig machte die
Nacht alle diese Dinge! Dann kehrte sie um,
sie füllte sich die Augen mit denselben
Häusern, mit dem stets gleichen
Vorüberziehen dieses Stückchens Avenue; und
dies zehnmal, zwanzigmal hintereinander,
ohne Unterbrechung, ohne eine Minute Rast
auf einer Bank. Nein, niemand wollte sie
haben. Ihre Schande schien ihr durch dieses
Verschmähtwerden noch zu wachsen. Sie ging
abermals zum Hospital hinunter, sie ging
wieder zu den Schlachthäusern hinauf. Das
war ihr letzter Spaziergang, von den blutigen
Höfen, wo totgeschlagen wurde, zu den fahlen
Sälen, wo der Tod die Menschen in den Laken
für jedermann steif werden ließ. Dort hatte
sich ihr Leben abgespielt.
»Mein Herr, hören Sie doch ...«
Und jäh gewahrte sie ihren Schatten auf der
Erde. Wenn sie sich, einer Gaslaterne näherte,
zog sich der verschwommene Schatten
zusammen, und wurde deutlicher, ein
ungeheurer, gedrungener und grotesker
Schatten, so rund war er. Das dehnte sich,
Bauch, Brust, Hüften, und floß und wallte
zusammen. Sie humpelte so stark, daß der
Schatten auf dem Boden bei jedem Schritt
einen Purzelbaum schoß, eine richtige
Kasperpuppe! Wenn sie sich dann entfernte,
wuchs die Kasperpuppe, wurde riesengroß,
füllte den Boulevard aus, mit Verbeugungen,
bei denen sie sich die Nase an Bäumen und
Häusern einschlug. Mein Gott, wie drollig und
erschreckend sie war! Nie hatte sie ihre
Laschheit so gut begriffen. Da konnte sie nicht
umhin, sich das anzuschauen, und wartete die
Gaslaternen ab und verfolgte mit den Augen
den Chahut ihres Schattens. Na, da hatte sie ja
eine schöne Vettel, die neben ihr ging! Was
für eine Fratze! Das mußte die Männer ja auf
der Stelle anlocken. Und sie senkte die
Stimme, sie wagte nur noch im Rücken der
Passanten zu stammeln.
»Mein Herr, hören Sie doch ...«
Inzwischen mußte es sehr spät geworden sein.
Das ging schief in dem Viertel. Die
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