Der Todschlaeger
Schnee, der sie peitschte.
Ein richtiger Sturm war das. Auf diesen
Höhen, inmitten dieser weit offenen Flächen,
wirbelte der feine Schnee umher und schien
von allen vier Himmelsrichtungen zugleich
herangeweht zu werden. Man konnte keine
zehn Schritt weit sehen, alles ertrank in diesem
stiebenden Staub. Das Viertel war
verschwunden, der Boulevard schien tot, als
habe der Windstoß soeben das Schweigen
seines weißen Lakens über den Schluckauf der
letzten Trunkenbolde geworfen. Mühselig ging
Gervaise immer noch dahin, geblendet,
verloren. Sie berührte die Bäume, um sich
zurechtzufinden. In dem Maße, wie sie
vorankam, traten die Gaslaternen gleich
erloschenen Fackeln aus der Blässe der Luft
hervor. Als sie dann eine Straßenkreuzung
überquerte, blieben selbst diese Lichter mit
einem Schlage aus; sie wurde erfaßt und in
einem fahlen Wirbel umhergedreht, ohne
etwas zu unterscheiden, das sie leiten konnte.
Unter ihr entfloh der Boden, der von
unbestimmtem Weiß war. Graue Mauern
schlossen sie ein. Und wenn sie zögernd
stehenblieb und den Kopf wandte, erriet sie
hinter diesem Schleier aus Eis die
Unermeßlichkeit der Avenuen, die endlosen
Reihen der Gaslaternen, jene ganze schwarze
und öde Unendlichkeit des eingeschlafenen
Paris.
Sie stand da, wo der äußere Boulevard mit
dem Boulevard de Magenta und dem
Boulevard Ornano zusammenstößt, und
träumte davon, sich auf die Erde schlafen zu
legen, da hörte sie ein Geräusch von Schritten.
Sie lief, aber der Schnee verstopfte ihr die
Augen, und die Schritte entfernten sich, ohne
daß sie ausmachen konnte, ob sie nach rechts
oder nach links gingen. Endlich gewahrte sie
die breiten Schultern eines Mannes, einen
dunklen tanzenden Fleck, der in einem Nebel
versank. Oh, den da wollte sie haben, den
würde sie nicht loslassen! Und sie lief
schneller, holte ihn ein, faßte ihn am Kittel.
»Mein Herr, mein Herr, hören Sie doch ...«
Der Mann drehte sich um. Es war Goujet.
Da koberte sie also nun Goldmaul an! Was
hatte sie denn bloß dem lieben Gott getan, daß
sie so bis zum Ende gemartert wurde? Das war
der schlimmste Schlag: dem Schmied
zwischen die Beine zu geraten, bleich und
flehend, von ihm unter die Vorstadtfosen
eingereiht zu werden. Und das geschah unter
einer Gaslaterne, sie gewahrte ihren
unförmigen Schatten, der so aussah, als mache
er wie ein richtiges Zerrbild auf dem Schnee
einen Jux. Man hätte meinen können, das sei
ein besoffenes Weib. Mein Gott, kein
Häppchen Brot, keinen Tropfen Wein im
Leibe haben und für ein besoffenes Weib
gehalten zu werden! Es war ihre Schuld,
warum besoff sie sich immer? Sicher glaubte
Goujet, sie habe getrunken und sumpfe gemein
herum.
Goujet indessen schaute sie an, während der
Schnee in seinem schönen gelben Bart
Gänseblümchen entblätterte. Als sie dann den
Kopf senkte und zurückwich, hielt er sie fest.
»Kommen Sie«, sagte er.
Und er ging voran. Sie folgte ihm.
Geräuschlos an den Mauern entlangziehend,
gingen sie beide durch das stumme Viertel.
Die arme Frau Goujet war im Oktober an
akutem
Rheumatismus
gestorben.
Schwermütig und allein wohnte Goujet immer
noch in dem kleinen Haus in der Rue Neuve
de la Goutte d'Or. An diesem Tage hatte er
sich verspätet, weil er bei einem verletzten
Kumpel gewacht hatte. Als er die Tür geöffnet
und eine Lampe angezündet hatte, drehte er
sich zu Gervaise um, die demütig auf dem
Treppenflur zurückgeblieben war. Er sagte
sehr leise, als könne ihn seine Mutter noch
hören:
»Treten Sie ein.«
Die erste Stube, Frau Goujets Stube, war
ehrfurchtsvoll in dem Zustand erhalten, in dem
sie sie verlassen hatte. In der Nähe des
Fensters lag auf einem Stuhl das
Klöppelkissen neben dem großen Sessel, der
auf die alte Spitzenklöpplerin zu warten
schien. Das Bett war gemacht, und sie hätte
sich hineinlegen können, wenn sie den
Friedhof verlassen hätte, um herzukommen
und den Abend mit ihrem Kind zu verbringen.
Das Zimmer wahrte Andacht, einen Hauch
Ehrbarkeit und Güte.
»Treten Sie ein«, wiederholte der Schmied
lauter.
Ängstlich trat sie ein mit der Miene einer
Dirne, die sich in einen ehrwürdigen Ort
einschleicht. Er war ganz blaß und zitterte über
und über, weil er eine Frau so bei seiner toten
Mutter einführte. Sie durchquerten den Raum
mit gedämpften Schritten, wie um der
Schande, gehört zu werden, zu entgehen. Als
er Gervaise dann in seine Stube
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