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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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Schnee, der sie peitschte.
    Ein richtiger Sturm war das. Auf diesen
    Höhen, inmitten dieser weit offenen Flächen,
    wirbelte der feine Schnee umher und schien
    von allen vier Himmelsrichtungen zugleich
    herangeweht zu werden. Man konnte keine
    zehn Schritt weit sehen, alles ertrank in diesem
    stiebenden Staub. Das Viertel war
    verschwunden, der Boulevard schien tot, als
    habe der Windstoß soeben das Schweigen
    seines weißen Lakens über den Schluckauf der
    letzten Trunkenbolde geworfen. Mühselig ging
    Gervaise immer noch dahin, geblendet,
    verloren. Sie berührte die Bäume, um sich
    zurechtzufinden. In dem Maße, wie sie
    vorankam, traten die Gaslaternen gleich
    erloschenen Fackeln aus der Blässe der Luft
    hervor. Als sie dann eine Straßenkreuzung
    überquerte, blieben selbst diese Lichter mit
    einem Schlage aus; sie wurde erfaßt und in
    einem fahlen Wirbel umhergedreht, ohne
    etwas zu unterscheiden, das sie leiten konnte.
    Unter ihr entfloh der Boden, der von
    unbestimmtem Weiß war. Graue Mauern
    schlossen sie ein. Und wenn sie zögernd
    stehenblieb und den Kopf wandte, erriet sie
    hinter diesem Schleier aus Eis die
    Unermeßlichkeit der Avenuen, die endlosen
    Reihen der Gaslaternen, jene ganze schwarze
    und öde Unendlichkeit des eingeschlafenen
    Paris.
    Sie stand da, wo der äußere Boulevard mit
    dem Boulevard de Magenta und dem
    Boulevard Ornano zusammenstößt, und
    träumte davon, sich auf die Erde schlafen zu
    legen, da hörte sie ein Geräusch von Schritten.
    Sie lief, aber der Schnee verstopfte ihr die
    Augen, und die Schritte entfernten sich, ohne
    daß sie ausmachen konnte, ob sie nach rechts
    oder nach links gingen. Endlich gewahrte sie
    die breiten Schultern eines Mannes, einen
    dunklen tanzenden Fleck, der in einem Nebel
    versank. Oh, den da wollte sie haben, den
    würde sie nicht loslassen! Und sie lief
    schneller, holte ihn ein, faßte ihn am Kittel.
    »Mein Herr, mein Herr, hören Sie doch ...«
    Der Mann drehte sich um. Es war Goujet.
    Da koberte sie also nun Goldmaul an! Was
    hatte sie denn bloß dem lieben Gott getan, daß
    sie so bis zum Ende gemartert wurde? Das war
    der schlimmste Schlag: dem Schmied
    zwischen die Beine zu geraten, bleich und
    flehend, von ihm unter die Vorstadtfosen
    eingereiht zu werden. Und das geschah unter
    einer Gaslaterne, sie gewahrte ihren
    unförmigen Schatten, der so aussah, als mache
    er wie ein richtiges Zerrbild auf dem Schnee
    einen Jux. Man hätte meinen können, das sei
    ein besoffenes Weib. Mein Gott, kein
    Häppchen Brot, keinen Tropfen Wein im
    Leibe haben und für ein besoffenes Weib
    gehalten zu werden! Es war ihre Schuld,
    warum besoff sie sich immer? Sicher glaubte
    Goujet, sie habe getrunken und sumpfe gemein
    herum.
    Goujet indessen schaute sie an, während der
    Schnee in seinem schönen gelben Bart
    Gänseblümchen entblätterte. Als sie dann den
    Kopf senkte und zurückwich, hielt er sie fest.
    »Kommen Sie«, sagte er.
    Und er ging voran. Sie folgte ihm.
    Geräuschlos an den Mauern entlangziehend,
    gingen sie beide durch das stumme Viertel.
    Die arme Frau Goujet war im Oktober an
    akutem

    Rheumatismus

    gestorben.
    Schwermütig und allein wohnte Goujet immer
    noch in dem kleinen Haus in der Rue Neuve
    de la Goutte d'Or. An diesem Tage hatte er
    sich verspätet, weil er bei einem verletzten
    Kumpel gewacht hatte. Als er die Tür geöffnet
    und eine Lampe angezündet hatte, drehte er
    sich zu Gervaise um, die demütig auf dem
    Treppenflur zurückgeblieben war. Er sagte
    sehr leise, als könne ihn seine Mutter noch
    hören:
    »Treten Sie ein.«
    Die erste Stube, Frau Goujets Stube, war
    ehrfurchtsvoll in dem Zustand erhalten, in dem
    sie sie verlassen hatte. In der Nähe des
    Fensters lag auf einem Stuhl das
    Klöppelkissen neben dem großen Sessel, der
    auf die alte Spitzenklöpplerin zu warten
    schien. Das Bett war gemacht, und sie hätte
    sich hineinlegen können, wenn sie den
    Friedhof verlassen hätte, um herzukommen
    und den Abend mit ihrem Kind zu verbringen.
    Das Zimmer wahrte Andacht, einen Hauch
    Ehrbarkeit und Güte.
    »Treten Sie ein«, wiederholte der Schmied
    lauter.
    Ängstlich trat sie ein mit der Miene einer
    Dirne, die sich in einen ehrwürdigen Ort
    einschleicht. Er war ganz blaß und zitterte über
    und über, weil er eine Frau so bei seiner toten
    Mutter einführte. Sie durchquerten den Raum
    mit gedämpften Schritten, wie um der
    Schande, gehört zu werden, zu entgehen. Als
    er Gervaise dann in seine Stube

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