Der Todschlaeger
gekommen sei und der die Leute bis
drei Uhr morgens am Schlafen gehindert habe.
Aber während sie schwatzte, musterte sie die
junge Frau mit einem Ausdruck heftiger
Neugier; und sie schien nur hergekommen zu
sein und sich unter das Fenster hingestellt zu
haben, um etwas zu erfahren.
»Ihr Mann liegt wohl noch im Bett?« fragte sie
unvermittelt.
»Ja, er schläft«, antwortete Gervaise, die nicht
verhindern konnte, daß sie rot wurde.
Frau Boche sah, wie ihr wieder die Tränen in
die Augen stiegen. Und zweifellos befriedigt,
entfernte sie sich, wobei sie die Männer
verdammte Faulenzer schimpfte; dann kam sie
zurück, um zu rufen:
»Sie gehen doch heute früh zum Waschhaus,
nicht wahr? – Ich habe etwas zu waschen, ich
werde Ihnen einen Platz neben mir frei halten,
und dann können wir miteinander reden.« Wie
von plötzlichem Mitleid ergriffen, sagte sie
dann: »Meine arme Kleine, Sie würden
wirklich besser daran tun, nicht dort
stehenzubleiben, Sie holen sich was weg ... Sie
sind ja blaugefroren.«
Starrköpfig blieb Gervaise noch zwei tödlich
lange Stunden bis acht Uhr am Fenster. Die
Läden waren geöffnet worden. Die von den
Anhöhen herabströmende Woge von Kitteln
hatte aufgehört, und nur ein paar Nachzügler
passierten weit ausschreitend die Zollschranke.
Bei den Weinschenken standen dieselben
Männer und tranken, husteten und spuckten
weiter. Den Arbeitern waren die Arbeiterinnen
gefolgt, die Poliererinnen, die Modistinnen
und die Blumenmacherinnen, die sich fest in
ihre dünnen Kleidungsstücke hüllten und die
äußeren Boulevards entlangtrippelten. Sie
gingen in Gruppen zu dreien oder vieren,
unterhielten sich lebhaft mit leichtem Lachen
und in die Runde geworfenen blitzenden
Blicken. Hin und wieder ging eine ganz allein,
mager, mit blasser und ernster Miene, an der
Zollmauer entlang, wobei sie dem Unrat in den
Gossen auswich. Dann waren die Angestellten
vorbeigekommen, die in ihre Finger bliesen
und im Gehen ihr EinSouBrötchen aßen:
schmächtige junge Leute mit zu kurzen
Anzügen und Rändern um die Augen, die noch
ganz trübe vor Schläfrigkeit waren, und kleine
alte Männer, die mit bleichem, von den langen
Bürostunden verbrauchtem Gesicht auf ihren
Füßen hin und her schwankten und auf ihre
Uhr sahen, um ihren Gang bis auf einige
Sekunden genau zu regulieren.
Und die Boulevards hatten ihren
Morgenfrieden wiedergewonnen. Die
Rentiers7 aus der Nachbarschaft gingen in der
Sonne spazieren, die Mütter, mit bloßem Kopf
und in schmutzigen Röcken, wiegten in ihren
Armen Wickelkinder, die sie auf den Bänken
trockenlegten, ein ganzer Schwarm zerlumpter
rotznäsiger Gören balgte sich, kroch unter
Plärren, Lachen und Weinen auf der Erde
herum.
Jetzt fühlte Gervaise, wie sie erstickte, von
einem Schwindel der Angst ergriffen und mit
ihrer Hoffnung am Ende; ihr war, als sei alles
zu Ende, als sei die Welt zu Ende, als würde
Lantier nie mehr heimkehren. Sie ließ ihre
gedankenverlorenen Blicke von den alten
Schlachthäusern, die schwarz waren von ihrem
Gemetzel und ihrem Gestank, zu dem neuen
fahlen Hospital schweifen, das durch die noch
gähnenden Löcher seiner Fensterreihen kahle
Säle sehen ließ, in denen der Tod seine Sense
schwingen sollte. Ihr gegenüber hinter der
Zollmauer blendete sie der gleißende Himmel,
die aufgehende Sonne, die über dem
unermeßlichen Erwachen von Paris größer
wurde.
Die junge Frau saß mit hilflos herabhängenden
Händen auf einem Stuhl und weinte nicht
mehr, als Lantier seelenruhig eintrat.
»Da bist du ja, da bist du ja!« rief sie und
wollte ihm um den Hals fallen.
»Ja, da bin ich – na und?« antwortete er. »Du
willst doch nicht etwa mit deinen Albernheiten
anfangen?« Er hatte sie beiseite geschoben.
Dann schleuderte er weit ausholend mit einer
mißmutigen Gebärde seinen schwarzen Filzhut
auf die Kommode.
Er war ein kleiner, sehr brünetter Bursche von
sechsundzwanzig Jahren mit einem hübschen
Gesicht und schmalem Schnurrbart, den er
stets mit einer mechanischen Handbewegung
zwirbelte. Er trug eine leinene Arbeitshose und
einen alten, fleckigen Überzieher, den er in der
Taille eng zusammenzog, und sprach mit
einem stark ausgeprägten provenzalischen
Akzent.
Gervaise, die auf den Stuhl zurückgesunken
war, beklagte sich leise in kurzen Sätzen.
»Ich habe kein Auge zumachen können ... Ich
glaubte, man habe dir etwas angetan ... Wo
bist du hingegangen?
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