Der Todschlaeger
ihrem
Brot unter dem Arm zur Arbeit gingen. Und
das Gewühl ergoß sich nach Paris hinein, wo
es unaufhörlich versank. Als Gervaise mitten
unter all diesen Leuten Lantier zu erkennen
glaubte, beugte sie sich, auf die Gefahr hin,
hinauszufallen, noch weiter vor; dann preßte
sie ihr Taschentuch fester auf den Mund, um
ihren Schmerz gleichsam in sich
hineinzudrücken.
Eine junge heitere Stimme bewirkte, daß sie
vom Fenster wegtrat.
»Ihr Mann ist wohl nicht da, Madame
Lantier?«
»Allerdings nicht, Herr Coupeau«, antwortete
sie und bemühte sich zu lächeln.
Es war ein Bauklempner, der ganz oben im
Hotel ein Gelaß zu zehn Francs bewohnte. Er
hatte seinen Beutel über die Schulter
geworfen. Da er den Schlüssel in der Tür
steckend gefunden hatte, war er als Freund
hereingekommen.
»Sie wissen ja«, fuhr er fort, »ich arbeite jetzt
da im Hospital ... Ein schöner Mai, nicht
wahr? Ganz hübsch frisch heute früh.« Und er
betrachtete Gervaises von den Tränen
gerötetes Gesicht. Als er sah, daß das Bett
nicht aufgedeckt war, schüttelte er sacht den
Kopf; dann kam er bis an das Bettchen der
Kinder, die immer noch mit ihren rosigen,
pausbäckigen Gesichtern schliefen, und senkte
die Stimme: »Na, ihr Mann ist unvernünftig,
nicht wahr? – Grämen Sie sich nicht, Madame
Lantier. Er beschäftigt sich viel mit Politik; als
man neulich für Eugène Sue4 – einen
tüchtigen Kerl, wie es scheint – gestimmt hat,
war er wie ein Verrückter. Vielleicht hat er die
Nacht auch mit Freunden zusammen verbracht
und über diesen Lumpen Bonaparte5
geschimpft.«
»Nein, nein«, murmelte sie mühsam, »das, was
Sie glauben, ist es nicht. Ich weiß, wo mein
Mann ist ... Mein Gott, wir haben unseren
Kummer wie alle Welt!«
Coupeau zwinkerte mit den Augen, um zu
zeigen, daß er nicht auf diese Lüge hereinfalle.
Und er brach auf, nachdem er ihr angeboten
hatte, ihre Milch zu holen, falls sie nicht
weggehen wolle: sie sei eine schöne und
rechtschaffene Frau, sie könne auf ihn
rechnen, wenn sie einmal in Not sein sollte.
Sobald er sich entfernt hatte, stellte sich
Gervaise wieder ans Fenster.
An der Zollschranke ging das
Herdengetrampel in der Morgenkälte weiter.
Man erkannte die Schlosser an ihren blauen
Jacken, die Maurer an ihren weißen
Leinenhosen und die Maler an ihren
Überziehern, unter denen lange Kittel
hervorsahen. Von weitem wahrte diese Menge
eine gipsartige Verwischtheit, einen neutralen
Ton, in dem verschossenes Blau und
schmutziges Grau vorherrschten. Ab und zu
blieb ein Arbeiter stehen und zündete seine
Pfeife wieder an, während rings um ihn die
anderen stets weitergingen ohne ein Lachen,
ohne ein an einen Kumpel gerichtetes Wort,
die Wangen erdfahl, das Gesicht hingestreckt
nach Paris, das sie einen nach dem anderen
durch die gähnende Rue du
FaubourgPoissonnière verschlang. An den
beiden Ecken der Rue des Poissonniers
verlangsamten unterdessen an der Tür der
beiden Weinhändler, die ihre Fensterläden
abnahmen, Männer den Schritt; und bevor sie
eintraten, blieben sie mit schiefen Blicken auf
Paris und schlaffen Armen am Rande des
Bürgersteiges stehen, schon gewonnen für
einen Tag des Bummelns. Vor den
Schanktischen spendierten Gruppen unter sich
Lagen, vergaßen dort im Stehen die Zeit,
füllten die Räume, spuckten, husteten und
spülten sich mit hintergekippten Gläschen die
Kehle.
Gervaise spähte nach links in der Straße nach
Vater Colombes Lokal, wo sie Lantier gesehen
zu haben meinte, als eine dicke Frau mit
bloßem Kopf und Schürze sie von der Mitte
des Fahrdamms aus anrief:
»Hören Sie, Madame Lantier, Sie sind ja sehr
früh auf!« Gervaise beugte sich vor.
»Ach, Sie sind es, Madame Boche! – Oh, ich
habe einen Haufen Arbeit heute!«
»Ja, es macht sich nichts von allein, nicht
wahr?«
Und es entspann sich eine Unterhaltung vom
Fenster zum Bürgersteig. Frau Boche war die
Concierge6 des Hauses, dessen Erdgeschoß
das Wirtshaus »Veau à deux têtes« einnahm.
In ihrer Loge hatte Gervaise öfter auf Lantier
gewartet, um sich nicht allein mit all den
Männern, die nebenan aßen, zu Tisch zu
setzen. Die Concierge erzählte, sie gehe ganz
in die Nähe zur Rue de la Charbonnière, um
einen Angestellten im Bett anzutreffen, von
dem ihr Mann die Ausbesserung eines
Überrocks nicht bezahlt bekommen konnte.
Dann sprach sie von einem ihrer Mieter, der
am vergangenen Abend mit einer Frau nach
Hause
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