Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
Wachmann folgte seinem Blick. »Geh jetzt. Es ist nicht gut, hier zu sein.«
Simon wäre gerne näher getreten, um sich die Kristalle genauer anzusehen. Doch etwas in der Stimme des Wachmannes ließ ihn zögern. Besser, er folgte der Aufforderung. Nach einem letzten Blick auf die Eishand drehte er sich um und ging. Als er den Rand der freien Fläche, die den Turm umgab, erreicht hatte, schaute er noch einmal zurück.
Der Wachmann war fort.
Golden und unnahbar funkelte der Tower in der Sonne.
12
Seine Mutter war gut gelaunt, als sie sich vor der Boutique trafen. Zwar kam er zu spät, doch auch sie verließ gerade erst den Laden, eine Papiertüte in der Hand. Offenbar war ihr Einkauf erfolgreich gewesen.
Gespielt streng schaute sie auf die Uhr. »Wer hat getrödelt?«
Simon blieb cool. »Du.«
Sie lachte und hakte sich bei ihm unter. Gemeinsam gingen sie zur Rolltreppe.
Am Hauptplatz unter der Lichtkuppel des Einkaufszentrums aßen sie ein Eis. Der Tower blitzte durch das Glasdach herein, die Sonne brach sich in seiner spiegelnden Außenhaut.
»Sieht beeindruckend aus, nicht wahr?« Seine Mutter war seinem Blick gefolgt. »Aber auch irgendwie … kalt.«
Simon nickte stumm. Er musste an das Bild denken, das sein Großvater gemalt hatte: der goldene Turm inmitten düsterer Häuserschluchten, umgeben von Hunderten Augen. Hier in der Stadt war das Bild nicht entstanden, es musste der Fantasie des Großvaters entsprungen sein. Doch Simon ahnte jetzt, warum sein Opa das Bild so bedrohlich gemalt hatte. Der Turm war unheimlich, trotz seines goldenen Glanzes.
Sie schwiegen, während sie wieder nach Hause fuhren.Die Pracht der City blieb hinter ihnen zurück, die Landschaft wurde trockener, die Farben blasser, bis wieder Sandbraun der alles beherrschende Farbton war. Schließlich verließen sie die Autobahn und rollten die Straße hinab Richtung Meer. Wenig später tauchte das Dorf an der Küste auf.
Simon sah seine Mutter von der Seite an. »Kannst du mich am Dorfeingang rauslassen?«
»Warum das denn?« Seine Mutter war erstaunt.
»Ich will nach Ira sehen«, antwortete Simon.
Seine Mutter runzelte die Stirn. »Das Mädchen, dem du geholfen hast? Hast du da nicht die alte Frau getroffen?«
Simon hörte an ihrem Tonfall, dass sie ihm den Besuch verbieten wollte. Eilig winkte er ab. »Das war nur Zufall. Die Frau seh ich bestimmt nicht noch einmal.«
Seine Mutter blieb skeptisch.
»Du hast doch selber gesagt«, setzte er nach, »dass ich Freunde kennenlernen soll.« Es war immer das Beste, der Mutter ihre eigenen Argumente vorzuhalten.
Es klappte auch diesmal. Sie lächelte. »Na gut.« Am ersten Haus, das sie erreichten, stoppte sie den Wagen. »Dann viel Spaß!«
Er nickte, stieg aus und winkte ihr noch einmal zu. Seine Mutter wendete das Auto und fuhr weiter zur Straße, die den Hügel hinaufführte. Das Geräusch des Wagens wurde leiser, bis es ganz erstarb.
Der Weg zu Iras Haus war lang und beschwerlich, nicht weil er sonderlich weit gewesen wäre, sondern weil sich Simon prompt verlief. Er wusste den Weg nicht genau, und er fand,dass die Straßen des Dorfes alle ähnlich aussahen, was Ira vermutlich bestritten hätte. Aber Simon hatte bald schon in dem Gewirr aus Gassen und Treppen die Orientierung verloren. Endlich entdeckte er die Straße, in der Ira wohnte.
Das Haus, zu dem er Ira am Vortag gebracht hatte, stand an einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein ausgetrockneter Brunnen den durch die Luft treibenden Wüstensand einfing. Verkrüppelte Bäume säumten die Piazza. Während Simon auf das Gebäude zuging, betrachtete er es genauer: Es war ockerfarben so wie die anderen Häuser und mit einer Mischung aus Kalk und Sand verputzt. Der Putz war alt und brüchig und an vielen Stellen schon abgeplatzt und ließ das darunter liegende Mauerwerk zum Vorschein kommen. Erst jetzt fiel Simon auf, dass das Haus etwas größer war als die umliegenden Gebäude: Die Fenster waren höher, das Dach breiter, und zur Eingangstür führten einige von einer Steinbrüstung eingefasste Stufen hinauf. Muster aus verblassten Farben umrahmten das Portal, das Haus musste vor vielen Jahren bunt und freundlich ausgesehen haben. Im Laufe der Jahre jedoch hatte die Sonne die Farben ausgeblichen, und der Wüstensand hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass das Haus schäbig und heruntergekommen aussah so wie die anderen in der Straße.
Simon stieg die Stufen hinauf zum Eingang. Er suchte vergeblich nach einer Klingel,
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