Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
»Aber oben auf den Dächern ist es toll. Oder hast du so was schon mal bei dir zu Hause gemacht?«
Simon schüttelte den Kopf. »Meine Eltern würden ausrasten.«
»Hast du ihnen von unserer Tour erzählt?«
»Spinnst du? Dann wäre ich nicht hier. Meine Mutter kann echt stur sein.« Er sah Ira an. »Und dein Vater? Weiß er davon?«
Ira schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.
Eine Krähe flog über die Häuser und landete auf dem Brunnen. Ira zog ihre Zwille hervor, lud sie mit einem kleinen Sandbrocken und vertrieb den pechschwarzen Vogel. Protestierend erhob sich die Krähe in den Himmel und flog davon.
Schweigend sahen sie ihr nach.
»Mann, ist das heiß hier.« Ira blinzelte in die Sonne, die gnadenlos auf sie herabbrannte. Es war die wärmste Zeit des Tages. »Ich geh rein, ich hab Durst. Willst du auch was trinken?« Auf das gesunde Bein gestützt, erhob Ira sich.
Simon brauchte etwas, bis er begriff, dass sie ihn einlud, mit ihr in das Haus zu gehen. Er zögerte. »Und was ist mit deiner Oma?« Er wusste nicht genau, ob er sie treffen wollte oder besser nicht.
Ira zuckte mit den Achseln. »Ich hab sie den ganzen Tag noch nicht gesehen. Schätze, sie ist in ihrem Zimmer. Jetzt um diese Uhrzeit schläft sie.«
Simon wusste, dass sich viele Erwachsene hier im Süden in den Mittagsstunden hinlegten. Auch seine Mutter zog sich zu dieser Zeit ins Schlafzimmer zurück, sie hatte den Tagesrhythmus der Gegend schnell angenommen. Er selber ging lieber baden, wenn es heiß war. Was Kaltes trinken war aber auch nicht schlecht.
Gemeinsam stiegen sie die Stufen hinauf. Quietschend öffnete sich die Haustür, Ira schlüpfte durch den Spalt. Simon folgte ihr.
Im Inneren des Hauses war es dunkel und kühl. Die dicken Mauern speicherten die Kälte der Nacht, die in alle Häuser hereingelassen wurde, sobald es draußen abkühlte. Jetzt waren die Fenster verschlossen und die Fensterläden vorgezogen. Lichtstrahlen drangen durch die verwitterten Holzlamellen und zeichneten Muster auf den Boden.
Staunend sah Simon sich um: Sie befanden sich in einer großen Eingangshalle. Die Wände waren mit Holz getäfelt, an der Decke hing ein verstaubter Kronleuchter. Weiter hinten sah Simon einen Treppenaufgang, dazu mehrere mit Schnitzereien verzierte Türen und an der rechten Seite einen großen, rußgeschwärzten Kamin. Von Rissen durchzogene Steinplatten bedeckten den Boden. Alles sah alt und heruntergekommen aus.
»Hier geht’s lang.« Ira ging voran. Sie durchquerten die Halle, liefen ein paar Stufen hinab und gingen in die Küche, ein lichtarmer Kellerraum, dessen Einrichtung so alt wie das ganze Haus zu sein schien. Mit einer Kelle schöpfte Ira Wasser aus einem Holzfass in zwei Gläser und reichte Simon eines davon. Sie tranken. Das Wasser war lauwarm und schmeckte brackig.
Ira beobachtete ihn über den Rand des Glases hinweg.
Simon sagte nichts und trank sein Glas leer. Auch wenn es nicht kalt war, tat das Wasser gut.
»Kann ich mir hier irgendwo die Hände waschen?« Suchend sah Simon sich um.
Wortlos reichte Ira ihm ein Stück Seife und schöpfte Wasser aus dem Fass, um es über dem Ausguss über seine Hände zugießen. Dabei musterte sie ihn erneut unauffällig, als wolle sie sehen, wie er reagierte. Simon spürte ihren Blick, und plötzlich glaubte er zu verstehen, was in ihr vorging: Es war ihr unangenehm, wie es hier aussah. Deshalb hatte sie ihn auch gestern nicht in das Haus lassen wollen.
Simon fand das Haus tatsächlich ziemlich ungewöhnlich, aber das war nichts, wofür sie etwas konnte oder sich gar schämen musste.
»Wie wäscht du dir denn die Hände, wenn du alleine bist?« Simon wischte seine Handflächen an der Hose trocken und sah Ira neugierig an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass hier ständig jemand auf sie wartete, um ihr Wasser über die Finger zu gießen.
Statt einer Antwort schöpfte sie erneut die Kelle voll. »So.« Sie legte den Kopf schräg und biss in den angekauten Griff. Erst jetzt bemerkte Simon, dass der Holzgriff der Kelle aussah, als wäre er von Mäusen angenagt. Dann nahm Ira die Seife und wusch sich die Hände, während sie langsam den Kopf drehte und das Wasser aus der Kelle über ihre Finger goss.
»Cool.« Simon war beeindruckt. »Und warum kommt kein Wasser aus dem Wasserhahn?«
»Hier funktioniert gar nichts. Seit Mama tot ist, zerfällt das Haus. Papa macht nichts mehr.«
»Wie: nichts?«
»So wie ich es sage.« Ira verstummte, als hätte sie schon zu viel
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